Teil I

Vorüberlegungen

Was ist Kultur? Diese Frage hat mich schon immer fasziniert. Ebenso die Begegnung mit anderen Kulturen und die Frage, welche Beziehungen zwischen Kultur und Mönchtum bestehen.

Seit dem Konzil ist es in der Kirche zu einer Frage ersten Ranges geworden, wie Kirche und Kultur sich zu einander verhalten. Papst Johannes Paul II.

spricht ständig davon, vor allem im Zusammenhang mit der Evangelisierung, und er hat sogar ein Sekretariat für den Dialog der Kirche mit der zeitgenössischen Kultur eingerichtet. Seine Botschaft zum Weltfriedenstag am 1. Januar 2001 war ganz dem Thema des Dialogs zwischen den Kulturen für eine Zivilisation der Liebe und des Friedens gewidmet. Mit diesem Dokument schließt sich ein Kreis. Zu Beginn seines Pontifikats hat er 1980 vor der UNESCO in Paris eine sehr wichtige Ansprache gehalten über die Kultur. Der Begriff der Kultur, den er damals entwickelt hat und nun 20 Jahre später wieder aufnahm, hilft uns, alles zu verstehen, was im Lauf seines Pontifikats darüber gesagt und geschrieben wurde. Zwei grundlegende Gedanken bestimmen diese Dokumente: Erstens, daß Kultur kennzeichnend ist für den Menschen und seine Geschichte, und zweitens, daß kulturelle Verschiedenheit nicht nur einen Reichtum darstellt, sondern überhaupt zum Begriff der Kultur gehört.

Der Titel dieses Beitrags lautet „Mönchtum und Kultur“. Man könnte leicht meinen, es handle sich nur um eine andere Überschrift für die Frage nach den Herausforderungen, mit denen das Mönchtum durch die zeitgenössische Kultur konfrontiert wird. Ich möchte aber das Thema weiter fassen und auf grundlegende Weise die Beziehungen zwischen der Kultur und dem Mönchtum behandeln.

Der Begriff der Kultur

Das Wort Kultur wird in vielen verschiedenen Bedeutungen gebraucht. Wenn man im Abendland von Kultur spricht, denken die meisten Leute sofort an das, was man die klassische humanistische Kultur nennen könnte, eine umfassende Bildung, vor allem auf literarischem und künstlerischem Gebiet. Man gilt als kultiviert, wenn man gebildete Konversation machen und mit Sachkenntnis von Cicero und Vergil sprechen oder Dante, Shakespeare und Goethe zitieren kann. Dabei handelt es sich um die Kultur einer gesellschaftlichen Elite. Gewiß, die humanistische Bildung und eine tiefergehende Kenntnis der profanen Wissenschaften machen einen Teil der Kultur aus - aber eben nur einen Teil, und nicht einmal den wichtigsten. Vielmehr umfaßt die Kultur den ganzen Menschen mit all seinen Beziehungen zur Natur, zu den Mitmenschen und zu Gott. Eine gute Beschreibung dessen, was Kultur ist, findet man in der Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils Gaudium et Spes. [a]

Natur und Kultur

Die Definition von Gaudium et Spes greift diese Beziehungen des Menschen zu Natur und Kultur auf, gebraucht jedoch dafür die zeitgenössischen anthropologischen und soziologischen Begriffe. Nach einer Einführung über die Situation des Menschen in der heutigen Welt gliedert sich die Konstitution in einen eher theoretischen Teil: „Die Kirche und die Berufung des Menschen“, und einen pastoralen Teil: „Über einige dringlichere Probleme“. Im 2. Kapitel des zweiten Teils handelt sie von der Förderung des kulturellen Fortschritts, und hier wird die Kultur folgendermaßen definiert:

In der Person des Menschen selbst liegt es begründet, daß sie nur durch Kultur, das heißt, durch die entfaltende Pflege der Güter und Werte der Natur, zur wahren und vollen Verwirklichung des menschlichen Wesens gelangt. Wo immer es daher um das menschliche Leben geht, hängen Natur und Kultur engstens zusammen.(Nr. 53) [b]

Hier wird bereits zwischen Natur und Kultur unterschieden, jedoch behauptet, daß beide in einer engen Beziehung zueinander stehen. Die Natur ist das, was uns vorgegeben ist; die Kultur ist etwas, was Menschen ins Werk setzen, hervorbringen, schaffen, indem sie das, was in der Natur angelegt ist, „kultivieren“. Man hat keine „Kultur“ ohne etwas zu „kultivieren“! Während „Natur“ die Schöpfung bedeutet, wie sie vor uns, den menschlichen Wesen, besteht, ist die „Kultur“ das, was menschliche Wesen mittels ihrer intellektuellen und handwerklichen Arbeit durch Einflußnahme herstellen auf der Grundlage dieser Schöpfung. Die Kultur ist also das Milieu, das der Mensch sich, von der Schöpfung ausgehend, als seinen Lebensraum schafft.

Das Wort Kultur, lateinisch cultura, kommt von der Wurzel cura her, die „Fürsorge“ im Sinne von „Sich-kümmern-um“ bedeutet. Bereits Cicero gebrauchte das Wort cultura, um das Objekt einer solchen Fürsorge zu bezeichnen, so etwa, wenn er von der cultura animi sprach.

Anfänglich aber war der Begriff „Kultur“ an die Landwirtschaft gebunden und wies auf die Fürsorge, die Pflege und das „Wachsen-lassen“ von etwas hin, was bereits vorhanden ist, unabhängig von dieser Kultur, zum Beispiel Pflanzen und Tiere. Im Gegensatz dazu besteht die „Technik“ darin, Dinge hervorzubringen, die ohne den Menschen nicht existieren würden. Die Technik schafft Instrumente, Werkzeuge, während die Kultur das Natürliche, was bereits vorhanden ist, zur Entfaltung bringt und vervollkommnet. So entwickelt sich eine Kultur im wahren Sinn des Wortes dadurch, daß der Mensch dem Auftrag des Schöpfers nachkommt, die Erde zu „kultivieren“, zu bebauen, zu gestalten und über sie zu wachen, nach dem tiefen Sinn des zweiten Schöpfungsberichtes im Buch Genesis (2,15).

Weiter heißt es in Gaudium et Spes: Unter Kultur im allgemeinen versteht man alles, wodurch der Mensch seine vielfältigen geistigen und körperlichen Anlagen ausbildet und entfaltet; wodurch er sich die ganze Welt in Erkenntnis und Arbeit zu unterwerfen sucht; wodurch er das gesellschaftliche Leben in der Familie und in der ganzen bürgerlichen Gesellschaft im moralischen und institutionellen Fortschritt menschlicher gestaltet; wodurch er endlich seine großen geistigen Erfahrungen und Strebungen im Lauf der Zeit in seinen Werken vergegenständlicht, mitteilt und ihnen Dauer verleiht - zum Segen vieler, ja der ganzen Menschheit. [c]

Wir haben hier eine Aufzählung der Güter und Werte, die der Mensch kultiviert. Sie gehören zum physischen, materiellen, gesellschaftlichen und geistigen Bereich. All diesen Gütern, die der Mensch kultiviert, kann er auch Bestand verleihen, indem er sie in Kunstwerken und Überlieferungen zum Ausdruck bringt, die von Generation zu Generation weitergegeben werden. Diese Kunstwerke und Überlieferungen drücken zugleich seine menschlichen und religiösen Erfahrungen wie auch seine Sehnsüchte aus.

Sobald man von Überlieferungen und Weitergabe spricht, geht es um einen gesellschaftlichen Prozeß. Kultur hat eine soziale Dimension. Gaudium et Spes fährt fort:

Daraus folgt, daß die Kultur des Menschen notwendig eine geschichtliche und gesellschaftliche Seite hat und darum der Begriff der Kultur meist das Gesellschaftliche und das Völkische mitbezeichnet. In diesem Sinne spricht man von Kulturen im Plural. Denn aus der verschiedenen Weise des Gebrauchs der Dinge, der Arbeitsgestaltung, der Selbstdarstellung, der Religion und der Sittlichkeit, der Gesetzgebung und der rechtlichen Institution, der Entfaltung von Wissenschaft, Technik und Kunst entsteht eine Verschiedenheit der gemeinschaftlichen Lebensformen und der Gestalten, in denen die Lebenswerte zu einer Einheit zusammentreten. So bildet sich aus den überlieferten Einrichtungen ein jeder menschlichen Gemeinschaft eigentümliches Erbe. So entsteht für den Menschen jedweden Volkes und jeder Zeit auch eine abgegrenzte und geschichtliche Umwelt, in die er eingefügt bleibt und von der her er die Werte zur Weiterentwicklung der menschlichen und gesellschaftlichen Kultur empfängt. [d]

Vielfalt von Kulturen

Bisher sprachen wir von der Kultur in der Einzahl. Es sind aber immer konkrete Menschen, welche die Natur je nach ihren Bedürfnissen und Idealen gestalten. Jeder einzelne ist so eingefaßt und eingereiht in das umfassende Ganze einer Gruppe, eines Volkes, einer Rasse. Er ist ein Kind seiner Zeit und seines gesellschaftlichen Milieus. So zeigt sich eine Mannigfaltigkeit von Kulturen.

Der Mensch ist ein soziales Wesen, und seine sozialer Verfaßtheit verwirklicht sich in einer Vielzahl von Gesellschaften. Eine jede Form sozialen Lebens hat eine ihr eigene Ausrichtung in Beziehung zu den anderen, sei es in Gleichordnung oder Unterordnung. So hat auch jede Gesellschaft ihre eigene Kultur, das heißt, ihr eigenes System von Sinn und Werten, Glaubensüberzeugungen, Symbolen usw.

Die Kultur ist das menschliche Universum, das, bewußt oder unbewußt, von einer Gemeinschaft geschaffen wird: die ihr eigene Darstellung der Vergangenheit und ihrer Pläne für die Zukunft, ihre Einrichtungen und typischen Schöpfungen, ihre Gewohnheiten und Glaubensüberzeugungen, ihre Haltungen und ihre charakteristischen Verhaltensweisen. Es handelt sich und ihre jeweils ureigene Art, sich mitzuteilen, zu arbeiten, zu feiern, Techniken und Werke hervorzubringen, die ihre Seele enthüllen, und um ihre letztgültigen Werte.

Die Kultur ist dann auch die typische Mentalität, die sich jedes Individuum aneignet, indem es sich mit einer Gruppe identifiziert. Sie ist das menschliche Erbe, das von Generation zu Generation weitergegeben wird. Jede Gemeinschaft, die von einer gewissen Beständigkeit ist, hat ihre eigene Kultur: eine Nation, eine Region, ein Volksstamm, eine bestimmte soziale Gruppe, wie etwa die Jugend, die Arbeiter, usw.

Mehr denn je sind wir uns bewußt, daß jedes Land, jedes Volk, jede Nation und jede Rasse ihre eigene Kultur besitzt. Aber die kulturelle Verschiedenheit ist nicht nur den weit entfernten Kontinenten eigen. Wir erfahren heute auch in kleinen geographischen Bereichen schon eine starke Zersplitterung der Kulturen. Die Informatik, die soziale Mobilität, die größere Unabhängigkeit des einzelnen, die beschleunigte Veränderung der gesamten Lebensentwicklung und mehrere andere Faktoren haben dazu beigetragen, daß heute oft innerhalb eines begrenzten Raums verschiedene Kulturen existieren, die kaum noch miteinander in Kommunikation treten können: man denke an die Kluft zwischen den Generationen oder an gesellschaftliche Randgruppen.

Diese Art und Weise, von der Kultur zu sprechen, ist ziemlich neu. Sie ist zu einem wesentlichen Konzept der modernen soziologischen Sprache geworden, von der auch die Kirche immer mehr Gebrauch macht. Die Kultur gilt heute als der grundlegende Antrieb, als die wichtigste Energie und Voraussetzung für jede Form gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen und internationalen Lebens.

Kultur und religiöse Erfahrung

Ehe wir über die Beziehung zwischen Mönchtum und Kultur sprechen, müssen wir uns einige Gedanken über die Beziehungen zwischen Kultur und Glauben machen, ja noch tiefgreifender: über das Verhältnis von Kultur und religiöser Erfahrung. Gehen wir von einem biblischen Beispiel aus.

Jakob in Bet-El

Während seiner Reise von Beerscheba nach Haran hat Jakob während der Nacht einen Traum (Gen 28, 10 ff.). Er sieht eine Leiter, die auf der Erde ruht und deren Enden den Himmel berühren; Engel steigen auf dieser Leiter hinauf und herab. Gott spricht zu ihm: „Ich bin der Gott deines Vaters Abraham und der Gott Isaaks... Ich bin mit dir...“ Für Jakob ist das eine sehr beeindruckende spirituelle Erfahrung. Nachdem er aufgewacht ist, sagt er: „Wahrlich, Jahwe ist an dieser Stätte, und ich wußte es nicht.“ Erschrocken fügt er an: „Wie furchterregend ist dieser Ort! Hier ist das Haus Gottes und die Pforte des Himmels!“ Und was tut er? Er nimmt den Stein, der ihm als Kopfkissen gedient hat, richtet ihn als Denkmal auf und gießt Öl darüber, um ihn zu weihen.

Jakob hat einen Altar errichtet - und somit eine Opferstätte. Jedes Mal, wenn er an diesem Ort vorüberzieht, wird er künftig auf diesem Altar ein Opfer darbringen und so die Erfahrung, die er in dieser Nach erstmals gemacht hatte, in sich erneuern. Später wird er seinen Söhnen von dieser Erfahrung erzählen, und diese werden sie ihren Söhnen weitergeben. Von dieser Erfahrung und anderen, gleichartigen Erfahrungen ausgehend, entsteht eine Überlieferung. Es wird eine Lehre über den Sinn des Lebens erarbeitet, über die Beziehung zu Gott und über die moralischen und sozialen Forderungen, die sich daraus ergeben. Hier finden wir alle Elemente einer Religion vor - und auch alle Elemente einer Kultur.

Ein kleines Bild soll die drei Ebenen der religiösen Erfahrung ausdrücken:

Erfahrung ð Gedächtnis der Erfahrung ð Auslegung der Erfahrung

In jeder spirituellen Erfahrung gibt es drei Ebenen: die Ebene der eigentlichen Erfahrung (des Geschehens an sich), die Ebene der Erinnerung an diese Erfahrung, des Gedenkens (memoria), und die Ebene der Deutung, der Auslegung der Erfahrung.

Die erste Ebene ist die des Glaubens, die zweite die der Religion, die dritte ist die Ebene der Philosophie und Theologie. Am Beginn und an der Basis einer Religion steht immer eine grundlegende geistliche Erfahrung. Dies ist Gegenstand des Glaubens. Dieser Glaube drückt sich durch die verschiedenen Elemente aus, die die Religion ausmachen: Mythen, Überlieferungen, Riten und sittliche Gesetze. In all dem äußert sich der Glauben und wird er überliefert, weitergegeben, verewigt. Das ist das Wesentliche der religiösen Bildung. Und schließlich macht sich, von der zweiten Generation an, das Bedürfnis bemerkbar, den Gegenstand des Glaubens zu erklären und zu kommentieren: es entsteht ein philosophisches und theologisches System.

Unter den drei Ebenen der religiösen Erfahrung besteht eine Hierarchie, obwohl alle drei notwendig sind. Die Erfahrung an sich ist gewiß die wesentlichste und wichtigste Ebene, die Voraussetzung für alles andere. Es gibt keinen Glauben ohne religiösen Ausdruck, aber man kann auch inhaltslose, leere religiöse Ausdrucksformen haben. In der Liturgie heißt die wesentliche Frage; „Was wird gefeiert?“ Erst danach kommt die Frage: „Wie feiert man?“

Dem Christentum ist es eigen, ein Glaube an Jesus Christus zu sein - ein Glaube, der sich in religiösen Handlungen ausdrückt, die zunächst der jüdischen Religion, später auch dem römischen Kultus entliehen wurden. Wenn ich aber keine persönliche Erfahrung mit Jesus Christus im kontemplativen,liebenden Gebet habe, dann bin ich kein Christ, auch wenn ich an alle Dogmen glaube, alle Ritten praktiziere und alle Normen beobachte.

Dies Schema gilt auch für die Kultur. Zu Beginn einer Kultur, oder jedenfalls in ihrer Mitte, steht eine besondere Art und Weise der menschlichen Erfahrung, eine Haltung gegenüber der Wirklichkeit, gegenüber Gott (ausdrücklich oder stillschweigend), gegenüber den Mitmenschen, gegenüber dem Kosmos. Diese Erfahrung wird von einer Gruppe geteilt, wird weitergegeben durch Überlieferungen, durch Mythen, durch Rituale - samt ihren theoretischen, philosophischen und manchmal theologischen Erklärungen. Hier zeigt sich schon der Zusammenhang zwischen Religion und Kultur.

Kultur und Christentum

Es gibt keinen Glauben ohne Religion und keinen Glauben ohne kulturellen Ausdruck. Jeder Glaube braucht, um für den Menschen „Leben“ zu werden, kulturelle Vermittlungen. Die kulturelle Vermittlung ist also nicht etwas, was dem Glauben fremd wäre und nur eine Methode darstellte; sie ist vielmehr eine notwendige und grundlegende Dimension des Glaubens. Es gibt keinen wahren Glauben, der sich nicht durch das Gelebte ausdrückt.

Selbst die Werte des christlichen Glaubens, die, wie alle großen geistigen und moralischen Werte, von umfassendem und absolutem Charakter sind, müssen noch übersetzt, konkretisiert und angewandt werden, um die Wirklichkeit zu beeinflussen und wirksam zu werden in einer konkreten Gesellschaft in einer bestimmten Epoche. Man kann den Glauben nicht verstehen und auch nicht leben ohne die geschichtliche Vermittlung durch die verschiedenen Kulturen. Wenn der Glaube als solcher aber unabhängig ist von jeder bestimmten Kultur, weil er alle Kulturen transzendiert, dann kann er nur voll empfangen und voll verstanden werden, wenn er treu gelebt wird.

Keine kulturelle Verkörperung des Glaubens verwirklicht alle seine Möglichkeiten. Und vor allem kann sich keine kulturelle Ausdrucksform vollständig mit dem Inhalt des Glaubens und seiner Botschaft identifizieren. Sie sind niemals ganz deckungsgleich. Es ist wichtig, zwischen dem christlichen Glauben und der christlichen Kultur zu unterscheiden. Es gibt nur einen christlichen Glauben, nur ein Evangelium. Aber es gibt viele verschiedene christliche Kulturen. „Eine“ christliche Kultur, parallel zu den anderen Kulturen der Menschheit, gibt es nicht. Es gibt nur unterschiedliche menschliche Kulturen, die christianisiert worden sind...

Der Sohn Gottes ist Mensch geworden: Jesus hat uns seine geistige Erfahrung mitgeteilt, die Erfahrung, die sein ganzes Wesen bestimmte: die Erfahrung, der eingeborene Sohn Gottes zu sein. Er hat uns berufen, die gleiche Erfahrung zu leben. Seine Erfahrung gibt die Norm für die unsrige. Christus ist Mensch geworden in einer bestimmten Kultur, in einer bestimmten Epoche der Geschichte, in einem genau umschriebenen geographischen Bereich. Nach seinem Tod und seiner Auferstehung aber steht er über allen Kulturen und ist an keine mehr besonders gebunden. Deswegen kann die christliche Erfahrung in allen Kulturen gelebt werden und muß alle menschlichen Kulturen berühren.

Wir sahen oben, daß die religiöse Erfahrung und ganz besonders die christliche Erfahrung von ihrer Natur her das ganze Leben des Glaubenden beeinflussen muß. Er bezeugt sie ja und gibt sie anderen weiter durch sein Leben. Sobald sie evangelisiert und von der christlichen Hoffnung umgeformt ist, wird die Kultur zum Träger des Evangeliums.

Kultur und Evangelium

Das Evangelium reinigt die Kultur, mit der es in Kontakt kommt: Es reinigt sie von ihren Gegen-Werten, d.h. von den gegen den Menschen und gegen die Ethik gerichteten Elementen, un wandelt sie von innen um, wie ein neuer Keim. So trägt die Evangelisation unmittelbar dazu bei, die menschliche Kultur weiter zu entwickeln, ohne sich deshalb mit irgendeiner bestimmten Kultur zu identifizieren, sei es auf kritische oder bestätigende Weise. Denn das Evangelium gibt allen Kulturen einen neuen Horizont letzter Bedeutung, die jedoch ihre eigenen Werte, ihre Sinnhaftigkeit und ihre echt menschlichen Ausdrucksweisen respektiert.

Dieser positive Einfluß ist doppelter Natur. Einerseits tragen die Werte und moralischen Tugenden des Evangeliums direkt zu diesem neuen Horizont bei, andererseits übt der evangelische Geist der Seligpreisungen und der theologischen Tugenden einen indirekten Einfluß auf den symbolischen Kern der Kulturen aus durch das Zeugnis und das konkrete Leben der Christen. So wird eine Kultur um so menschlicher, je mehr sie vom Evangelium umgeformt wurde, wie Christus völlig menschlich ist, weil er Sohn Gottes ist.

Wir dürfen den Ausdruck „christliche Kultur“ nicht so verstehen, als handle es sich um eine Unterwerfung der Kultur unter die Macht der Kirche, wie zum Beispiel durch eine Beziehung zwischen Staat und Kirche, wie sie im Mittelalter bestand. Auch heißt das keineswegs, daß die Christen von der Kultur ihres eigenen Volkes ausgeschlossen wären. Im Gegenteil, die Botschaft des Glaubens respektiert grundsätzlich die Freiheit aller; sie können mit einem „Ja“ oder einem „Nein“ antworten. Eine aufgezwungene christliche Kultur wäre ein Widerspruch in sich, wie das Konzilsdokument Dignitatis Humanae über die Religionsfreiheit ausdrücklich feststellt.

Kirche als Inkarnation in den Kulturen

Wir sind berufen, Christus nachzufolgen als kirchliche Gemeinschaft. Der Auftrag, das Evangelium zu verkünden, ist der Kirche anvertraut. Folglich ist die Kirche die verbindende Einrichtung zwischen der Botschaft des Evangeliums und deren Weitergabe. Die Botschaft des Evangeliums verkörpert sich in einer Kultur mittels der kirchlichen Gemeinschaft, so wie Christus Fleisch angenommen hat in einem Volk.

Die Kirche ist gleichzeitig göttlich und menschlich. Göttlich, weil sie von Gott stammt; menschlichen, weil sie aus Menschen besteht. Als menschliche Einrichtung, für Menschen bestellt, erscheint die Kirche stets in einem konkreten kulturellen Gewand. Es ist keine unsichtbare Kirche. Von ihrem Wesen her, als Sakrament Christi, ist sie die sichtbare Kundgebung des Heils - im sichtbaren Zeichen der Gemeinschaft unter den Menschen durch den Glauben, die Hoffnung und die Liebe, am dichtesten zu erfahren in der Liturgie. Also existiert die Kirche immer in einer bestimmten kulturellen Ausdrucksform. Es kann nicht anders sein, und hier liegt die entscheidende Schwierigkeit für den Prozeß der Weitergabe der Botschaft, in der Evangelisierung all der verschiedenen Kulturen, die auf der ganzen Welt verbreitet sind.

Inkulturation

Es gibt kein christliches Leben ohne Kirche. Die Evangelisierung eines Landes, eines Ortes geschieht nicht nur, indem man die christliche Lehre isolierten Einzelpersonen verkündet. Evangelisierung geschieht durch die Einpflanzung der Kirche dort, wo sie noch nicht besteht. Die erste Einpflanzung der Kirche in einem Missionsland muß notwendigerweise eine Einpflanzung mit einem fremden kulturellen Gewand sein, dem Gewand der Kultur jenes Landes, aus dem die Missionare kommen. Es geht nicht anders. Aber wenn sie einmal eingepflanzt ist, wird die Kirche in der Kultur, in der sie nun Wurzeln geschlagen hat und anfängt, neue Sprossen zu treiben, ein Ferment sein. Nach und nach wird sie sich in dieser Kultur inkarnieren, Fleisch annehmen, indem sie sich ein eigenes kulturelles Gewand zurechtmacht. Das ist genau der Prozeß der Inkulturation: nach und nach die kirchliche Realität verkörpern in einer bestimmten Kultur.

Dieses Problem ist nicht neu! Auch die Jünger Christi, die erste christliche Generation, die Urgemeinde hat dies gelebt. Der Sohn Gottes ist Fleisch geworden und hat in der hebräischen Kultur gelebt, und auch alle unmittelbaren Jünger Christi lebten in dieser Kultur. Jesus aber hatte den Auftrag gegeben, seine Frohbotschaft allen Völkern zu verkünden. Kaum hatte die Evangelisierung damit begonnen, andere Völker zu erreichen, stellte sich die Frage, die wir heute „Inkulturation“ nennen. Und gerade sie war das Thema des ersten Konzils: des Apostelkonzils in Jerusalem. Aus geschichtlichen Gründen hat sich die Kirche lange Zeit hindurch mit der abendländischen Kultur identifiziert. Die Strukturen der Verkündigung des Evangeliums waren tief beeinflußt von der abendländischen Art und Weise zu denken und zu handeln. Während der letzten Jahrzehnte hat man dieses Problem in der gesamten missionarischen Welt besonders stark gespürt.

Für die Kirche, für alle Missionare und für jeden, der mit der Aufgabe der Inkulturation zu tun hat, ist es von wesentlicher Bedeutung, immer darauf zu achten, daß der unveränderliche Kern der christlichen Erfahrung und der christlichen Botschaft entdeckt und immer wieder neu entdeckt wird. Dieser Kern ist an keine Kultur gebunden - auch wenn er nicht existieren kann, ohne in diesem Augenblick in einer bestimmten Kultur verkörpert zu sein. Dieser Punkt ist wichtig! Der Missionar muß der Ortskirche erlauben, ihr eigenes, bodenständiges kulturelles Gewand zu entwickeln; damit das aber möglich wird, muß sich die Kirche zunächst mit dem Missionar in ein fremdes Gewand hüllen, das aus der Ortskirche des Missionars stammt... Das läßt sich nicht vermeiden.

Grundlegende kulturelle Vermittlungen

Die christliche Erfahrung hat sich, wie gesagt, zunächst im kulturellen Kontext des Judentums ausgedrückt, danach im Kontext der griechisch-römischen Welt des Hellenismus. Daher haben die Schriften des Neuen Testaments und der Kirchenväter einen normativen Wert. Das christliche Mönchtum hat sich zuerst in die ägyptische Kultur und dann in die anderen großen Kulturen der Epoche inkulturiert. Deshalb muß man sich immer auf die fundamentalen Ausdrucksformen beziehen, die es damals gefunden hat.

Die Regel des heiligen Benedikt und die Zisterzienserväter behalten einen normativen Wert für die benediktinische und zisterziensische monastische Erfahrung und Lebensweise. Zwar kann die benediktinische und zisterziensische Tradition in allen Kulturen gelebt werden, aber eine monastische Überlieferung ist dann nicht mehr benediktinisch oder zisterziensisch, wenn sie den unmittelbaren Kontakt mit diesem grundlegenden Moment des Ursprungs verliert.

Jede Kultur ist verbesserungsfähig, jede kann noch vollkommener werden. Jede Kultur braucht eine Bekehrung. Der Prozeß der Inkulturation besteht nicht nur in der Benutzung einer gewissen Anzahl von kulturellen Elementen, die man als mit der christlichen Erfahrung vereinbar empfindet! Sie besteht vielmehr in der Fähigkeit einer Kultur, sich ansprechen und umformen zu lassen durch die in ihr wohnende christliche und monastische Erfahrung, wenn diese tief genug gelebt wird. Das Ergebnis wird eine neue Kultur sein, die einerseits noch bodenständig und ganz sie selbst ist, und doch grundlegend umgewandelt vom Evangelium.

[a] Pastoralkonstitution Gaudium et Spes = Die Kirche in der Welt von heute. Im folgenden nach Rahner / Vorgrimler, Kleines Konzilskompendium, Herder Taschenbuch, 6. Aufl. Freiburg 1969.
[b] a.a.O., S. 506
[c] a.a.O.
[d] a.a.O., S. 506-507