Identität mit Christus

Unser Leben an RB 72 modellieren

ARMAND VEILLEUX

Kapitel 72 der Regel endet mit diesem schönen Satz: „Sie sollen nichts höher stellen als Christus, der uns alle zum ewigen Leben fuhren möge." Das sind höchstwahrscheinlich die letzten Worte der Regel, die Benedikt geschrieben hat, denn bekanntlich wurde Kapi­tel 73, das letzte Kapitel der Regel in ihrer heutigen Fassung, schon vorher geschrieben; es kam als letztes Kapitel nach Kap. 66, später hat Benedikt die Kapitel 67 bis 72 hinzugefügt. Ich zitiere diesen kurzen Vers der Regel, denn er drückt die zentrale Stellung Christi im Leben des benediktinischen Bruders, der benediktinischen Schwester aus und hebt zugleich die Tatsache hervor, dass Christus nichts vorzuziehen bedeutet: ihm auf eine Reise zu folgen, die uns zum ewigen Leben führen wird - und zwar uns alle (das dürfte die beste Übersetzung von pariter sein), da wir Zönobiten sind.

 

Wenn wir daher von unserer „Identität mit Christus" sprechen, dann sollte diese Iden­tität nicht als etwas Statisches verstanden werden, einfach in dem Sinn, dass wir immer mehr „christus-ähnlich" werden, indem wir Ihn in altem, was wir tun, nachahmen. Es sollte auch nicht simpel so verstanden werden, dass Er der Erstgeborene ist und wir alle gerufen sind, an seiner göttlichen Natur teilzuhaben --- was natürlich auch stimmt und wichtig ist. In erster Linie sollte es als etwas Dynamisches verstanden werden: Wir folgen Ihm auf seiner eigenen Reise, die uns dorthin führt, wohin er geht. Christus selbst ist nicht unser Ziel. Er ist der Weg. Er ist unser Führer auf unserer Reise zum ewigen Leben, das heißt zum Vater. Ohne provozieren zu wollen, würde ich sogar sagen, dass Christus zuweilen einen zu großen Platz in unserer Christologie einnimmt. Im Evangeli­um steht er selbst nicht im Herzen seiner Lehre. Sondern der Vater! Besonders im Mar­kus-Evangelium lehrt Jesus nicht über sich selbst; er verkündet nicht sich selbst. Er verkündet das Reich Gottes, und er spricht über Gott. Er spricht über seinen Vater.

Der Kern der Lehre Jesu ist in den Gleichnissen zu finden; und die meisten Gleichnisse sind über den Vater. Jesus will uns lehren, was für eine Art von Vater Gott ist. Das große Paradoxon-oder vielmehr die große Ironie -- liegt natürlich darin, dass wir die Gleichnis­se meistens so lesen, als sprächen sie von uns (was zeigt, wie ego-zentriert wir sein können). Wir lesen die Gleichnisse, um in ihnen eine moralische Belehrung darüber zu finden, wie wir uns verhalten sollen. Das Gleichnis vorn verlorenen Sohn beispielsweise handelt aber nicht in erster Linie von der Rückkehr zu Gott, nachdem wir gesündigt haben - wenngleich diese Botschaft als eine Konsequenz miteingeschlossen ist; das Gleichnis spricht vielmehr über Gottes Liebe und Barmherzigkeit uns gegenüber. Das gleiche könnten wir von den meisten anderen Gleichnissen sagen.

Im Neuen Testament ist Jesus immer auf einer Reise. Der erste und grundlegendste Aspekt dieser Reise ist, dass Er vom Vater kam und zum Vater zurückkehrte. Diese paradigmatische Reise wird höchst majestätisch im christologischen Hymnus von Phil 2 beschrieben: „Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein, sondern er entäußerte sich, wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich... Er erniedrigte sieh, er war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz." Dies ist die Abwärtsbewegung... Dann kommt die Aufwärtsbewegung: „Darum (und diese Worte sind sehr wichtig) hat ihn Gott über alle erhöht und ihm den Namen verliehen, der größer ist als alle Namen - das ist der- Name aller Namen, der Name des Herrn oder Yahweh -- sodass jeder Mund bekennt: Jesus Christus ist der Herr..."

Christi Identität ist nicht von seiner Mission zu trennen. In Ihm sind Identität und Mission ein- und dasselbe. Dieser christologische Hymnus in Phil 2 wie auch Eph 1-2 geben uns ein grandioses theologisches Bild dieses Mysteriums. Nichtsdestoweniger hat Jesus in seiner menschlichen Psyche erst allmählich seine Identität entdeckt, und auf jeder Stufe dieser Entdeckung war er mit großen Versuchungen konfrontiert.

Schon mit zwölf Jahren lief er von sehnen Eltern weg, um bei der Sache seines VATERS zu sein; doch seine Stunde war noch nicht gekommen. Er kehrte nach Nazareth zurück und gehorchte weiterhin seinen Eltern, während er an Alter und Weisheit vor Gott und von- den Menschen -wuchs. Es war dann der große Wendepunkt in seinem Leben, als er das heimatliche Galiläa verließ und nach Judäa ging und dort vermutlich ein Schüler von Johannes dein Täufer wurde (das ist offenbar die Bedeutung von Johannes' Worten „Nach mir kommt einer..." -- das heißt, jemand, der mir folgt, in anderen Worten: einer meiner Schüler - „der ist größer als ich." (Die Übersetzung enthält den Ursprung des monastischen Lebens.) Und in dem Augenblick, da er getauft wird, hört er die Stimme des Vaters: „Du bist mein geliebter Sohn." Er muss diese Offenbarung in seine mensch­liche Psyche integrieren, und dazu geht er in die Wüste, wo er der Versuchung ins Auge sieht, der jeder Mensch jedes Mal, wenn er vor einem bedeutsamen Moment des Wachs­tums steht, ins Auge sehen muss. Die Versuchungen, denen er gegenübersteht, sind Einladungen, denen er nachgeben könnte, etwa zahlreiche Identifikationen oder falsche Identitäten, statt sehne wahre Identität als Sohn Gottes zu akzeptieren. Er muss, wie jeder von uns, auf Vergnügen, Macht und Ruhm verzichten. Er kann dann nach Galiläa zurückkehren und mit seiner Mission ganz und gar identifiziert werden. Später gibt es noch andere Wendepunkte und daher Augenblicke der Versuchung, zum Beispiel als die Volkmenge ihn zum König machen will, das heißt, zu einem Messias nach ihren eigenen Erwartungen. Da flüchtet er wiederum in die Wüste eines Buges, um zu beten. Und als es klar für ihn ist, dass er bald zu Tode kommen wird, geht er abermals zu dem Berg - dem Berg der Verklärung -, wo er mit Mose und Elija über seinen Tod spricht, und seine göttliche Sohnschaft wird vom Vater bestätigt. Die Frage Seiner Identität war für Chri­stus so wichtig wie für jeden anderen Menschen. Als er seine Jünger fragt: „Für wen halten mich die Leute?" - und dann „lhr aber, für wen haltet ihr mich? - Wer bin ich für euch?" -, da war das keine rhetorische Frage zu pädagogischen Zwecken. Es war für ihn eine wichtige, ja vitale Frage. Zu dieser Zeit wusste er bereits, dass er bald sterben würde. Aus menschlicher Sicht konnte seine Mission als gescheitert betrachtet werden. Er wollte - und musste - wissen, ob er im Gedächtnis seiner Jünger lebendig bleiben würde, und ob sie imstande wären, seine Mission (- seine Identität) fortzuführen.

Durch die Inkarnation ist Gott nicht einfach ein Mensch in Jesus geworden. Er wurde Mensch; er hat unser Menschsein auf sich genommen. In Hirn kehrt die ganze Mensch­heit zum Vater zurück. So sehr, dass Er unsere tiefste eigene Identität ist. Er ist die Fülle des „Selbst". Wir werden wir selbst in dem Maß, wie wir unsere eigene Christus-Identität annehmen - das heißt, in dem Maß, da wir alle unsere falschen Identitäten oder oberflächlichen Identifikationen hinter uns lassen, um die tiefste Ebene unseres Wesens zu erreichen: die Ebene, wo unser eigenes Wesen wächst, aus dem Sein heraus.

Ich habe oben zu Beginn gesagt, dass Christus nicht sich selbst verkündet hat; er verkündete den Vater. Manchmal aber offenbarte er Aspekte seiner eigenen Identität - zum Beispiel, als er sagte: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben"; oder als er zu Martha sagte: „Ich bin die Auferstehung und das Leben." Aber erst am Ende seines Lebens sagte er ein- oder zweimal: „Ich bin" (ohne jegliche nähere Bestimmung) - zum Beispiel, als er sagte: „Noch ehe Abraham, Isaak und Jakob wurden, bin ich"; oder besonders bedeutungsvoll, als er vom Hohepriester ausdrücklich gefragt wurde, in den Tagen der Passion, antwortete er: „Ich bin (es)." Zu dieser Zeit war er schon von allen verlassen und denn Tod nahe. Alles, was nicht seine tiefste Identität als Sohn. Gottes war, hatte man von Ihm weggenommen.

Das war Seine Reise. Jedes Mal also, wenn er im Evangelium zu jemandem sagt „Komm und folge mir", dann beruft er ihn, Ihm auf dieser Reise zu folgen. Sehr klar ist dies besonders in den- Berufung des reichen jungen Mannes. Zu dieser Zeit ist Jesus auf dem Marsch nach Jerusalem; er hat bereits angekündigt, dass er umgebracht würde. Das muss mit in Betracht gezogen werden, wenn wir die ganze Bedeutung seines Rufs „Geh, verkauf deinen Besitz, dann komm und folge mir" verstehen wollen.

Nun, wenn wir jemandem folgen, dann sehen wir sein Gesicht nicht. Wir sehen ihn von hinten - wie Mose, der die Herrlichkeit Gottes höchstens von hinten sehen konnte. Wer dazu gerufen ist, Christus zu folgen, der ist nicht einfach dazu gerufen, vor ihm zu sitzen, sein Gesicht bewundern und seine Worte zu schlürfen. Wenn wir Christus folgen, dann sehen wir seine Schultern, nicht sein Gesicht (wir sehen ihn noch nicht von Angesicht zu Angesicht). Die Schultern, die wir sehen, sind die Schultern, die das verlo­rene Schaf getragen haben und auch das Kreuz.

Dies ist auch die Bedeutung unserer monastischen Reise und besonders unserer mona­stischen Bekehrung. Zuallererst bedeutet Bekehrung die Entdeckung unserer eigenen wahren Identität. In diesem Sinn kann Jesu Reise als das Paradigma der wahren Bekeh­rung (die nicht in erster Linie ein Gang von der Sünde zur Tugend ist, sondern ein Weg durch verschiedene Phasen des Wachstums) betrachtet werden. Die Bekehrung, die Je­sus von seinen Jüngern verlangte, ist nicht bloß eine oberflächliche Modifizierung ihres moralischen Verhaltens. Sie bedeutet viel mehr, als dass man ein persönliches „Ego" durch ein anderes ersetzt, das respektabler ist oder mehr den Diktaten oder Erwartungen der Gesellschaft entspricht. Sie erfordert eine umfassende und radikale Umwandlung, die alle Dimensionen des menschlichen Wesens betrübt, „Geist, Seele und Leib", um in den Kategorien der Anthropologie des hl. Paulos zu sprechen (siehe 1 Thess 5,23)

Natürlich muss eine solche Bekehrung zuallererst eine Bekehrung des Herzens sein, der Quelle von allem, was in der menschlichen Existenz gut oder schlecht ist. Ezechiel hat reit schönen, poetischen Ausdrücken die Bekehrung beschrieben, die das neue König­reich charakterisieren sollte: „Ich schenke ihnen ein anderes Herz und schenke ihnen einen neuen Geist; ich nehme das Herz von Stein aus ihrer Brust und gebe ihnen ein Herz von Fleisch" (Ez 11,19). Die Reise zur Bekehrung ist in erster Linie eine innere Reise in die Winkel des Herzens, hin zu der Entdeckung unseres wahren Selbst, das heißt, der Person, die zu sein wir von Gott gerufen sind, das einzigartige Bild oder Wort Gottes, das wir sind, der Name, den er uns gegeben hat. In diesem tiefsten Teil von uns stoßen wir vielleicht auf Stellen, die uns unbekannt waren, unvertraute, unheimliche Länder, de­nen wir Fremde sind. Vielleicht müssen wir Nomaden werden in unserer eigenen Welt, Die erste Realität, der wir hier begegnen werden, ist unser Ego mit all seinen Begrenzun­gen, Wenn wir uns auf die Reise in unsere eigene innere Welt wagen, müssen wir auf Angst und Verwirrung und Versuchung gefasst sein. Eine solche Erfahrung der Wüste steht amBeginn einer jeden großen spirituellen Reise. Nach seiner Taufe begann für Jesus ein neuer Lebensabschnitt durch eine Reise in die Einsamkeit - wie ich schon vorhin sagte. Es war die Erfahrung des Propheten Elija, als er durch das Gewahrsein seiner eigenen Armut, seiner Ängste und seiner Schiwachheit ging, in der Wüste vor seiner Begegnung mit der Herrlichkeit Gottes am Berg Horeb. Es war auch die Erfahrung von Paulus, der nach seiner Begegnung mit Christus auf der Straße nach Damaskus einige geheimnisvolle Jahre in der arabischen Wüste verbrachte. Und seit den frühen Tagen des monastischen Lebens in Syrien und in Ägypten sind Tausende Frauen und Männer eben deswegen in die Wüste gegangen: um eine solche Erfahrung zu leben. Diese Reise, die einen verwandelt, kann mit einer sehr tiefen, vielleicht sogar erschüt­ternden Erfahrung beginnen, nie jener von Jesus im Moment seiner Taufe, oder von Paulus auf der Straße nach Damaskus oder von Elija auf dein Weg zum Berg Horeb. Die meisten von uns jedoch fangen diese Reise nahezu unmerklich an, nicht nach einer radi­kalen mystischen Erfahrung, sondern einfach, allmählich, so wie es im Leben geschieht: Wir gehen vom Erfolg zur Niederlage, machen die Erfahrung des Scheiterns in unserer akademischen Karriere, in unseren Freundschaften, in unserem moralischen Leben, und wir schmecken die zunehmende Frustration der nicht verwirklichten Träume, wenn wir damit anfangen, die Zahl unserer Jahre an den Spuren zu zählen, die sie in unserem Körper hinterlassen. Das mögen alles zunächst oberflächliche Dinge sein, aber sie berüh­ren uns tief, und wenn wir sie ehrlich akzeptieren, dann bringen sie uns in Berührung mit unseren tieferen Begrenzungen, unserer Sündhaftigkeit und all den Idolen, die wir insge­heim angebetet haben. Und das ist der erste Schritt auf dem Weg zur Bekehrung des Herzens.

Wenn die Wüstenväter ihre Kämpfe gegen Bestien mit aufgerissenem Rachen, gegen schleimige Schlangen und grimassierende Teufel (oder gegen verführerische Frauen) beschrieben, so haben sie damit nur verschiedene Aspekte ihres eigenen Herzens be­schrieben, die sie die Wüstenerfahrung entdecken ließ. Jung nennt sie unser Schatten­selbst, der unannehmbare Teil unserer Persönlichkeit, mit dem wir nun von Angesicht zu Angesicht konfrontiert werden.

Eine solche Erfahrung unserer Sündhaftigkeit ist nicht eine Erfahrung, die wir nur am Beginn unseres Noviziats machen! Sie kann, nach vielen Jahren des Gebets und des treuen Gottesdienstes, die plötzliche oder schleppende Entdeckung sein, dass in unseren Herzen starke, hartnäckige Zweifel über Gott und über unsere Berufung aufsteigen; dass intensive Leidenschaften lodern, dass Bedeutungen und Wahrheiten abstumpfen, dass immer mehr Fragen auftauchen und Antworten nicht in Sicht sind. Es können uns dann neue Arten von Dunkelheit und Unfruchtbarkeit berühren, und zwar tief. Das ist nicht mehr die reizvolle kleine Dunkelheit und Trockenheit der ersten Jahre, die uns Sicherheit gab, weil sie uns irgendwie davon überzeugte, dass wir zu den höheren Stufen des spirituellen Lebens aufstiegen, die Johannes vom Kreuz beschrieben hat. Auf diese Dun­kelheit und Trockenheit waren wir sogar ein bisschen stolz. Die neue Dunkelheit und Trockenheit aber ist schrecklich. Die Liebe Gottes, die uns einst aufrecht erhielt und uns motivierte, erscheint nun etwas Flüchtiges und Illusorisches zu sein.

Wenn Jesus die Realität der Bekehrung zu beschreiben versuchte, dann benutzte er Bilder, die nicht die Bilder einer reibungslosen, stufenweisen Verwandlung waren, son­dern Bilder, die die zwei traumatischsten Ereignisse des menschlichen Lebens spiegeln: Geburt und Tod. Mehr als sonst jemand wusste er, dass die Fülle des Lebens nicht ohne Durchquerung des Flusses des Todes erreicht werden kann. Zu Nikodemus sagte er (Job 3,5-b): „Amen, amen, ich sage dir: Wenn jemand nicht aus Wasser und Geist gebo­ren wird, kann er nicht in das Reich Gottes kommen. Was aus dem Fleisch geboren ist, das ist Fleisch; was aber aus dein Geist geboren ist, das ist Geist." Doch später nannte er auch die Voraussetzung für ein solches Leben. „Amen, amen, ich sage euch: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein, wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht" (Joh 12, 24-25). Wenn wir in der Dunkelheit unserer Nacht verstehen wollen, was eigentlich geschieht, und wir zum Meister gehen um Rat oder Trost, dann wird seine Antwort für uns genauso unergründlich sein wie für den armen Nikodernus.

Recht oft wird der Eintritt ins monastische Leben als „die Bekehrung" betrachtet (oder als die „zweite Bekehrung" nach der ersten, der Taufe). Der Rest unseres Lebens soll dann-reibungslos, wenn auch nicht immer leicht-Wachstum, Entwicklung und treues Durchhalten sein. Unser Gelübde der conversatlo morum wird als die Verpflichtung ver­standen, auf unserer geradlinigen, reibungslosen Reise zur Vollkommenheit nicht anzu­halten. Ebenso neigen wir heutzutage dazu, den „Sofort-Bekehrungen" - plötzlichen transformatorischen mystischen Erfahrungen - einen Vorzugsplatz einzuräumen. Die Gefahr besteht, dass solche Bekehrungen nichts weiter als einfache Verhaltens­änderungen sind, das Tauschen eines „Ego" gegen ein anderes „Ego". Jedenfalls ist aber auch die außergewöhnlichste Gotteserfahrung normalerweise nur der erste Schritt auf einer langen Reise zur Bekehrung, und sie befreit den Menschen nicht davon, in die Wüste des eigenen Herzens einzutreten und dort herumzuwandern, manchmal jahrelang, wie das Volk Israel in der Wüste. In eben diesem Geist sind die ersten Mönche in die Wüste gegangen, um mit ihrem eigenen Herzen in Berührung zu kommen und in dieser Arena auf die Mächte des Bösen zu treffen, sie nach dem Beispiel Christi und mit seiner Gnade zu besiegen und so das Kommen der Endzeit zu beschleunigen.

All die Reichtümer, die schmerzhaften Reichtümer solcher menschlicher Erfahrungen der Bekehrung können verloren gehen, wenn ungebührlich großer Wert auf außerordent­liche mystische Erfahrungen gelegt wird, auf unrealistischen charismatischen Enthusiasmus, oder wenn asketische Praktiken als Ersatz für die Fülle des Lebens dienen, zu der wir- gerufen sind. Askese ist notwendig und unerlässlich, doch sie kann auch eine beque­me Entschuldigung für die Flucht vor dein Schmerz des Wachsens sein. Sie kann ein bequemer Weg sein, uns von einem schmerzhaften Prozess des Lernens zu befreien, nämlich des Lernens, aufmerksam zu sein, zuzuhören, zu leben, zu lieben - in anderen Worten: „stufenweise" zur Fülle der Vollkommenheit zu gelangen.

Paradoxerweise kann der Versuch, außerhalb von uns selbst zu schauen und äußeren Idealen und Bewertungen gerecht werden zu wollen, die authentische Bekehrung, von der wir hier sprechen, verhindern. Und ich fürchte, unsere monastische Formation tut gerade das sehr oft. Statt Menschen zu einer schmerzhaften Bekehrung zu führen laden wir sie dazu ein, ein nettes neues Ego über ihr altes zu ziehen. Wenn Menschen den tieferen Grund ihrer Identität einzig darin finden zu können glauben, dass sie gesell­schaftlichen Rollen oder den Erwartungen einer Gemeinschaft entsprechend leben, dann fördern sie unwissentlich ein falsches Selbst. Ideale, die in sich etwas sehr Gutes sind, wie zum Beispiel ein guter Novize zu sein, ein guter Abt, eine gute Priorin, ein guter Magister oder ein guter Hirte - diese Ideale können zu Hindernissen für eine tiefere Bekehrung werden. Wir sind oft allzu ängstlich, von unseren eigenen Schöpfungen abzulassen und Gott zu erlauben, uns zu berühren, und unser wahres selbst zu gebären.

Wenn wir mutig die Reise durch die Wüste unseres Herzens fortsetzen, dann werden wir schließlich am tieferen Grund unseres Wesens ankommen, dort, wo es wächst aus dem Sein heraus; wo unser eigenes Selbst eins ist mit dem Einen, der die Fülle des Selbst ist, sodass wir mit Paulus sagen können: Nicht ich lebe; Er lebt in mir. Bekehrung führt uns zu einem erneuerten Bild von uns selbst, von Gott und von unserem Nächsten. Oder vielmehr, sie gestattet uns, über die Bilder hinauszugehen und in der gesegneten Einfach­heit, die ganz am Ende des monastischen Lebens steht, alles zu überwinden, was uns von uns selbst, von Gott und von unseren Brüdern fernhält. Monastische Bekehrung bringt daher ein schrittweises Verzichten auf alle unsere falschen Identitäten oder Identifikatio­nen mit sich, indem man aus ihnen herauswächst. Identifikation ist der Prozess, durch den wir uns mit etwas oder jemandem außerhalb von uns identifizieren; Identität ist unsere eigene Essenz, wer wir sind. Eine „Nachahmung Christi", die bloß darin besteht, dass wir versuchen zu tun, was er unserer Meinung nach in unserer Situation getan hätte, kommt über die Ebene der Identifikation nicht hinaus.

Wir wissen, wie ein Kind sich normalerweise reit seinem Vater oder seiner Mutter identifiziert, ein Teenager mit einem Star aus Sport oder Film, oder einfach einem Er­wachsenen, den er bewundert - das könnte auch ein Lehrer sein. 11> späteren Jahren identifiziert der junge Mann sich mit dem, was er tut und erreicht oder was er erwirbt und besitzt; die junge Frau ebenfalls, oder vielleicht auch mit ihren affektiven Eroberun­gen. Wenn aber jemand wirklich ei wachsen wird - was nicht bloß eine Frage der Zahl der Jahre ist -, dann entdeckt diese Person ihre Identität und wird sich ihrer bewusst: wer man ist, unabhängig von all den oberflächlichen Egos und all den Bildern, die andere von einem haben. Er/sie ist die Person, welche diese und jene Talente hat und andere nicht; welche dies und das besitzt und es verlieren kann; die Erfolg hat und Misserfolg, und die immer dieselbe Person bleibt durch alle Höhen und Tiefen des Lebens, und indessen mehr und mehr sie selbst wird.

Sehr schön ist dieser Prozess, im menschlichen wie auch im spirituellen Sinn eine erwachsene und autonome Person zu werden, in etlichen Gleichnissen des Alten und des Neuen Testaments ausgedrückt. Im Alten Testament haben wir die Geschichte von Ijob. Ijob hat alles, worin die Leute normalerweise ihre psychologische, soziale und spirituelle Identität finden. Er ist ein guter Mensch, er hat beim Volk Gottes einen guten Ruf, er hat eine Frau und viele Kinder (sieben Söhne und drei Töchter), zahlreichen Besitz - Felder, Kamele, Schafe, Rinder; und er bat auch männliche und weibliche Diener, die sich um seinen Besitz kümmern. Er ist bei guter Gesundheit und hat gute Freunde.

All das verliert er, einschließlich des Verständnisses seiner Frau und seiner Freunde, und einschließlich seiner Gesundheit. Er macht nun die wunderbare Entdeckung, dass er selbst nach dem Verlust von allem noch immer ist. Er existiert. Er ist derselbe Ijob, der all diese Dinge Tratte und der sie verloren hat. Der Ijob, der jetzt nichts mehr hat, ist derselbe Mensch, der einst ein reicher, mächtiger Mann von Einfluss war. Er hat nun. nichts mehr zu verlieren und ist frei. Deswegen kann er vor Gott stehen und sehr energisch zu Gott sprechen. Niemand in der Bibel spricht zu Gott auf diese Weise. Das ist keine Arroganz; sondern es ist parrhesia - Vertrauen und Freiheit; die Freiheit derer, die nichts zu verlie­ren haben. Am Ende wird er nicht nur wiederbekommen können, was er verloren hat, sondern er wird ähnliche Reichtümer (was verloren ist, das ist verloren) erwerben. Das ändert nichts daran, wer er ist. Er ist frei.

Im Neuen Testament wird derselbe Wachstumsprozess in einem von Jesu Gleichnis­sen beschrieben, nämlich im Gleichnis vom verschwenderischen Sohn (welches besser Gleichnis vom verschwenderischen Vater heißen sollte). Wir haben hier eine Familie, deren Leben glücklich und ohne Geschichte zu sein scheint. Es ist eine wohlgestellte Familie, denn es gibt unter den Familien ein Vermögen aufzuteilen: Felder, Herden, Die­ner. Es gibt eine Mutter und wahrscheinlich Schwestern, auch wenn sie nicht erwähnt werden, und mindestens zwei Bruder. Was das Gleichnis zeigen will, das ist die verschie­dene Haltung dreier Personen. Einer der Söhne hat genug von diesem ruhigen Familien­leben, obwohl es anscheinend harmonisch, leicht und angenehm war. Erwill sein eigenes Leben leben. Das Leben, das er mit seinem Vater, seinem Bruder und der übrigen Familie teilt, erfüllt ihn nicht mehr. Er braucht die eigene Leistung. Er möchte jemand sein und das Leben genießen. Er möchte als unabhängiges, isoliertes Individuum leben, nicht als Glied eines Ganzen. (Etwas, das wir manchmal in unseren Kommunitäten hören.)

Was tut der Vater? Er widerspricht nicht. Gewiss hat er in seiner Jugend seine Fehler begangen, und er anerkennt das Recht seines Sohns, seine eigenen zu machen. Für ihn ist wichtig, dass der Sohn Leben hat. Die Umstände, unter denen der Sohn sein Leben verwirklicht, sind wichtig, aber zweitrangig. Der verschwenderische Sohn kostet nun alle Freuden des Lebens. Es sind wahre Freuden, aber auf der oberflächlichen Ebene der Existenz. Allmählich verschwendet er alles, was er hat, und praktisch macht er die glei­che Erfahrung wie Ijob: er verliert alles. Der einzige Unterschied ist, dass er es sich selbst zuzuschreiben hat, während es auf Job vom großen Versucher herabgeschickt wurde. Er kommt nun zu sich - er hat so also seine Identität erreicht, er hat sich auf seine eigene Weise gefunden. Da war einer; der früher bei seinem Vater gelebt hat, der seinen Vater verlassen hat, der ein Vermögen hatte und es verschwendete, der die Freuden des Lebens genossen hat und sie sich nun nicht mehr leisten kann. Dieser Mensch ist fähig zur Bekehrung und zur Rückkehr zu seinem Vater. Er- ist jetzt so frei, dass er auch zurück-ehren kann. Er muss nicht fürchten, enterbt zu werden, denn er hatte schon sein Erb­teil, und er hat es verschwendet. Er- hat keine Angst, als Sohn zurückgewiesen zu wer­den, denn er erhebt keinen Anspruch darauf, als Sohn behandelt zu werden. Er möchte nur ein Diener sein, ein Kriecht (dieses Wort ist vielleicht das wichtigste Wort des Gleich­nisses). Und als der Vater ihn kommen sieht, läuft er ihm entgegen und umarmt ihn; denn sein Sohn ist am Leben. Der Vater sieht nicht den undankbaren Sohn, er sieht nicht den, der davongelaufen hat, er- sieht nicht den ausschweifenden Menschen. Er sieht seinen Sohn, der am Leben ist, und er möchte mit seiner Familie und den Dienern das Leben feiern. Nicht jeder ist imstande, Leben zu feiern, besonders Leben in anderen. Der andere Sohn ist die pathetischste Figur dieses Gleichnisses. Er ist wie der gute Christ, oder der gute Ordensmann, immer pflichtbewusst, aber er hat nicht die Bedeutung des Lebens verstanden, und am wenigsten hat er etwas von Liebe und Barmherzigkeit verstanden. Er ist unfähig zum Feiern, Tatsächlich hat er gar nichts zu feiern. Als er von den Feldern zurückkommt und Musik und Tanz hört, fragt er, was die Musik und das Tanzen zu bedeuten haben. Dieser arme Mann, mitsamt all seiner Tugend und treuen Observanz hat er nicht die Reise zur Reife und zum Erwachsensein gemacht, die sein Bruder gemacht hat.

Kommen wir nun zur Geschichte vom reichen jungen Mann zurück. Er fragt Jesus, was er tun soll, um das ewige Leben zu gewinnen. Sein Ziel ist gewiss gut - ewiges Leben. Ihn beschäftigt das „Tun". Er fragt, was er tun soll; und als Jesus ihm einige Gebote des Dekalogs nennt, sagt er, dass er das alles seit seiner Jugend getan hat. Dann fordert Jesus ihn auf, alles wegzugeben und zu kommen und ihm zu folgen. In Wirklich­keit fordert Jesus ihn auf, frei und freiwillig genau dieses Loslassen von allem zu vollzie­hen, zu dem Ijob von den Umständen gezwungen wurde und der verschwenderische Sohn von sich selbst. Er kann es nicht. Er ist nicht frei. Er ist noch nicht erwachsen geworden.

Dies ist der Prozess, der die ganze Benedikt-Regel hindurch beschrieben wird und der seine praktische Umsetzung, wenn er in einer zönobitischen Gemeinschaft gelebt wird, in dem findet, was Benedikt in seinem 72. Kapitel beschreibt; worüber wir beim nächsten Mal sprechen werden.

Wir finden hier auch eine wichtige Lektion über spirituelle Mutter- oder Vaterschaft und Formation. Formation heißt, jemandem dabei zu helfen, in seinem/ihrem monastischen Leben schon bald zu einer klaren persönlichen Identität zu kommen, die dann im ganzen weiteren Leben schrittweise verwandelt oder bekehrt wird. Wenn jemand diese Identität erworben hat, dann weiß er, wer er vor Gott ist, und er ist nicht von der Wert­schätzung durch die anderen abhängig, von den Bildern, die andere von ihm haben, von der Wertschätzung durch seine Superioren oder andere Mitglieder der Gemeinschaft.

Um Kapitel 72 im Licht unserer Identität mit Christus richtig zu verstehen, müssen wir noch einen anderen Aspekt von Christi Identität betrachten. Wir möchten uns mit Chri­stus identifizieren. Zweifellos ein edler Wunsch! Aber vielleicht wäre es wichtiger, dass wir uns fragen, „mit wem Christus sich identifizieren möchte". Die Antwort geht klar aus Mt 25 hervor: Christus identifiziert sich mit den Kleinen, den Bedürftigen, den Unter­drückten: „Ich war krank, ich war hungrig, ich war firn Gefängnis, ich wurde verfolgt... Was ihr für diese Kleinen getan habt, das habt ihr mir getan." Wenn wir, auf diese oder jene Weise, zu einer dieser Gruppen gehören, dann können wir sicher sein, dass Christus sich finit uns identifiziert.

Auch Eph 1-2 muss in diesem Kontext gelesen werden. Identität mit Christus ist nicht etwas Statisches, das man einfach bewundert und wofür man dankbar ist. Sie wird erreicht, indem man Christus in seinem Ostergeheimnis folgt. Paulus, der das an die Epheser schrieb, wusste sehr gut, wovon er redete, denn diese Identität Christi mit den Kleinen wurde ihm auf der Straße nach Damaskus offenbart: „Herr, wer bist du?" Und die Antwort war: „Ich bin der, den du verfolgst". Die Offenbarung, dass Christus sich mit den Verfolgten identifizierte, veränderte das Leben des Paulus, und zwar radikal. Bis dahin war Paulus ein privilegierter Mensch gewesen. Er hatte bei den besten Lehrern studiert und war irr jüdischen Volk hoch angesehen. Allem Anschein nach hatte er eitle klare Identität. Nach der Begegnung mit Jesus auf der Straße nach Damaskus wird er zum umherirrenden Juden, den beinahe jedermann abweist. Nie wird er zu einer örtlichen Gemeinde gehören, obwohl er derer viele gegründet und noch mehr durch seine Unter­weisung unterstützt hat. Das einzig Wichtige war nun seine Identität mit Christus.

Und über noch einen Aspekt der Reise von Jesus möchte ich nachdenken - die Reise von seinem Vater weg und zu seinem Vater hin. Es ist sein Gang durch die Hölle. In einem der frühesten Glaubensbekenntnisse wird gesagt, dass Christus nach seinen Tod und vor seiner Auferstehung hinunter in den Abgrund der Hölle gegangen ist. Das geläufigste Verständnis in der lateinischen Tradition ist, dass er all die Gerechten besuchen ging, die in Abrahams Schoß ruhten und darauf warteten, dass Jesus kam und sie mit sich hinauf zum Himmel nahm. Viele der frühen östlichen Kirchenväter hatten eine ganz andere In­terpretation: für sie war dieserAbstieg zur Hölle ein Teil von Jesu Selbstentäußerung und Übernahme aller Aspekte unseres Menschseins. Es war die radikalste kenosis. Nach populärem Verständnis stellen wir uns vor, dass Christus nach seinem Tod und vor seiner Auferstehung drei Tage zur Verfügung hatte, die mit etwas zu füllen waren. Darum ging er da hinunter, um jene zu besuchen und zu trösten, die lange darauf gewartet hatten, dass sie in den Himmel geführt würden. Dann stand er von den Toten auf-Auferstehung im Sinne einer Rückkehr zum Leben hier auf der Erde. Er verbrachte hier weitere vierzig Tage, um seine Jünger auszubilden, bevor er endgültig zum Himmel auffuhr. Das ist natürlich eitle Art Karikatur, aber nicht weit entfernt vorn volkstümlichen Verständnis. Dieses Verständnis nimmt die Erde als Bezugspunkt. Nachdem er 33 Jahre lang auf der Erde gelebt hatte, ist Christus nach seinem Tod hinunter zur Hölle gestiegen, dann in anderer Form zur Erde zurückgekehrt und schließlich von der Erde in den Himmel aufge­fahren. Für die griechischen Väter ist Christus, durch seinen Gehorsam bis zum Tode, in die Tiefe des Bösen gegangen (was immer wir uns darunter vorzustellen haben), und zwar als ein Opfer dieses Bösen, und von dort wurde er vom Vater in die Höhen des Himmels gehoben. Auferstehung heißt nicht, auf die Erde zurückzukehren, sondern ge­radewegs zum Vater zu gehen, aus den Tiefen des Leidens und der Erniedrigung heraus (siehe Phil 2). Die Erscheinungen nach der Auferstehung sind dann etwas Peripheres, das sich wirklich ereignet, aber in den Jüngern, nicht in Christus, der beim Vater ist.

Ich erwähne das, weil es Helfen kann zu verstehen, was Benedikt meint, wenn er zu Beginn von Kapitel 72 von zwei Arten des Eifers spricht: dem einen, der zur Hölle führt, und dem anderen, der zum ewigen Leben führt. Das ist das Thema meines nächsten Vortrags.