Die Lectio Divina als Schule des Gebets bei den Wüstenvätern
ARMANDVEILLEUX
Die Heilige Schrift: eine Schule des Lebens
Die Berufung des Antonius, wie sie der heilige Athanasius uns in seiner Vita Antonii überliefert hat, ist wohlbekannt. Der junge Antonius wuchs in einer christlichen Familie der Kirche von Alexandria (oder wenigstens in der Umgebung Alexandriens) auf. Von Kindheit an hatte er die Heilige Schrift vorgelesen gehört. Eines Tages jedoch, als er die Kirche betritt, trifft ihn der Schrifttext, der gerade vorgelesen wird, auf besondere Weise. Es ist die Geschichte von dem reichen jungen Mann, zu dem Jesus sagt: „Wenn du vollkommen sein willst, geh und verkaufe alles, was du hast und gib es den Armen. Dann komm und folge mir nach. Du wirst einen Schatz im Himmel haben.“ (Mt 19,21)
Zweifellos hatte Antonius diese Perikope schon vorher viele Male gehört. Aber an diesem Tag trifft ihn die Botschaft mit aller Macht, und er nimmt sie als einen persönlichen Anruf auf. Darum antwortet er auf den Ruf, verkauft den Familienbesitz – der beträchtlich war – und verteilt den Erlös an die Armen im Dorf. Er behält nur so viel zurück, wie er für den Unterhalt seiner jüngeren Schwester benötigt, für die er Verantwortung trägt.
Ein wenig später, als er wieder einmal zur Kirche kommt, hört er einen anderen Evangelientext, der ihn ebenso sehr bewegt wir der erste: „Sorgt euch nicht um morgen“ (Mt 6,34). Auch dieser trifft ihn mitten ins Herz als ein persönlicher Anruf. Und so vertraut er seine Schwester einer Gemeinschaft von Jungfrauen an (solche Gemeinschaften existierten damals schon lange), lässt alles hinter sich, was ihm noch geblieben war, und beginnt ein asketisches Leben außerhalb des Dorfes unter der Leitung von Asketen jener Gegend.
Hier zeigt sich deutlich, wie wichtig die Heilige Schrift den Wüstenvätern war und was sie ihnen bedeutete: zuerst und vor allem war sie eine Schule des Lebens für sie. Und weil sie eine Lebensschule war, war sie zugleich eine Schule des Gebets für Männer und Frauen, die aus ihrem Leben ein immerwährendes Gebet machen wollten, wie die Heilige Schrift von ihnen verlangte. Die Wüstenväterwollten in ihrem Leben treu alle Gebote der Schrift erfüllen. Und das erste konkrete Gebot, das sie in der Schrift bezüglich der Häufigkeit des Gebets fanden, war nicht, dass sie zu dieser oder jener Stunde des Tages und der Nacht beten sollten, sondern dass sie ohne Unterlass beten müssten.
Der heilige Athanasius schrieb über Antonius: „Er arbeitete mit seinen Händen, denn er hatte gehört: „Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen“ (2 Thess 3,10). Und was er erarbeitete, gab er teils für seine Nahrung aus, teils für die Bedürftigen. Er betete beständig, denn er hatte gehört, es sei nötig, unablässig bei sich zu beten. Er achtete nämlich so aufmerksam auf alles, was vorgelesen wurde, dass ihm kein Wort der Schrift entging – vielmehr nahm er alles in sich auf, so dass bei ihm das Gedächtnis den Platz der Bücher einnahm.“ Wir sollten bei diesem Text des Athanasius sofort festhalten, dass das immerwährende Gebet begleitet ist von anderen Tätigkeiten, insbesondere von der Handarbeit, und auch den Ausdruck „er achtete so aufmerksam auf das, was vorgelesen wurde“ beachten.
Selbstverständlich kann man nicht von der Heiligen Schrift als Schule des Lebens bei den Wüstenvätern sprechen, ohne die beiden wunderbaren Unterredungen zu erwähnen, die Cassian ausdrücklich dem Gebet widmete. Es handelt sich um die 9. und 10. Unterredung, die beide dem Abba Isaak zugeschrieben werden (und hinter dem sich möglicherweise die Gestalt des Evagrius verbirgt). Das grundlegende Prinzip wird sofort zu Beginn der 9. Unterredung angegeben:
Was bedeutet der Begriff „lectio divina“ ?
Ehe ich weiterfahre, möchte ich sofort klarstellen, dass ich in diesem Artikel über die lectio divina bei den Wüstenvätern diesen Ausdruck lectio divina nicht in dem technischen (und verkürzten) Sinn auffasse, den man ihm in der geistlichen und monastischen Literatur der letzten Jahrzehnte gegeben hat.
Das lateinische Wort lectio meint in seiner ersten und grundlegenden Bedeutung Unterricht, eine Lehre, eine „Lektion“. In einer zweiten, abgeleiteten Bedeutung kann lectio auch einen Text oder eine Gruppe von Texten meinen, die diesen Unterricht vermitteln. So sprechen wir zum Beispiel von den Lektionen aus der Heiligen Schrift, die in der Liturgie gelesen werden (in der eucharistischen Liturgie wie in der Stundenliturgie, vor allem im Nachtoffizium). Schließlich kann das Wort lectio in einem noch weiter abgeleiteten Sinn auch „Lesen“ bedeuten.
Heute versteht man offensichtlich den Ausdruck lectio divina allgemein in dieser letzteren Bedeutung. Tatsächlich spricht man in unseren Tagen von der lectio divina als von einer besonderen Observanz. Man sagt uns, dass es eine Art von Lesen sei, die sich von allen anderen Arten des Lesens unterscheide, und dass man vor allem die wahre lectio nicht verwechseln dürfe mit anderen Formen „geistlicher Lesung“. Das ist eine ganz und gar moderne Sicht, die als solche eine Auffassung darstellt, die den Vätern der Wüste – zu denen ich jetzt zurückkomme – fremd war.
Wenn wir die gesamte frühe lateinische Literatur heranziehen (was heutzutage einfach ist, sei es mit Hilfe guter Konkordanzen, sei mit Hilfe der CETEDOC – CD-ROMs), stellen wir fest, dass jedes Mal, wenn bei den lateinischen Schriftstellern vor dem Mittelalter der Ausdruck lectio divina erscheint, damit die Heilige Schrift selbst bezeichnet wird, und nicht eine menschliches Tun mit der Heiligen Schrift. Lectio divina ist synonym mit sacra pagina. So wird uns zum Beispiel gesagt, die lectio divina lehre uns dies und jenes; wir sollten aufmerksam auf die lectio divina lauschen, oder dass der göttliche Meister uns in der lectio divina an dieses und jenes Gebot erinnere, usw. Der heilige Cyprian schreibt zum Beispiel: Sit in manibus divina lectio, also „in DeinenHänden sei die Heilige Schrift“, oder der heilige Ambrosius: ut divinae lectionis exemplo utamur, „damit wir uns das Beispiel der Heiligen Schrift zunutze machen, oder der heilige Augustinus: aliter invenerit in lectione divina, „auf andere Weise wird man es in der Heiligen Schrift finden.“ Das ist die einzige Bedeutung des Begriffs lectio divina in der Zeit der Väter, und daher will ich ihn in diesem Artikel auch nur in diesem Sinn gebrauchen, außer wenn ich auf das zeitgenössische Verständnis eingehe. Ich will nicht von einer besonderen Observanz sprechen, welche die Schrift als ihr Objekt hat, sondern von der Heiligen Schrift selbst als einer Schule des Lebens und deshalb Schule des Gebets für die ersten Mönche.
Lesung ?
Außerdem verwirrt es, wenn man bei den Vätern von einem „Lesen“ der heiligen Schrift spricht. Ein eigentliches Lesen, wie wir es heute verstehen, muss damals in Wirklichkeit sehr selten gewesen sein. Die Mönche des Pachomius zum Beispiel, die zum größten Teil aus dem Heidentum kamen, waren verpflichtet, beim Eintritt ins Kloster lesen zu lernen, falls sie es nicht schon konnten, um die Heilige Schrift „lernen“ zu können. Ein Text aus der Regel sagt, es dürfte keinen im Kloster geben, der nicht wenigstens das Neue Testament und die Psalmen auswendig könne. Wenn sie einmal gelernt waren, wurden diese Texte der Stoff für die meletè, eine beständige meditatio oder ruminatio den ganzen Tag und ein Gutteil der Nacht hindurch, im persönlichen wie im gemeinschaftlichen Gebet. Dieses Wiederkäuen der Schrift wird nicht als mündliches Gebet aufgefasst, sondern eher als ein beständiger Kontakt mit Gott durch sein Wort. Eine beständige Aufmerksamkeit, die von selbst zum ständigen Gebet wird. Eine Geschichte aus dem Apophtegmatazeigt deutlich die nur relative Bedeutung des Lesens im Vergleich zur absoluten Bedeutung des Inhalts der Heiligen Schrift:
„Man erzählte von Abba Serapion, dass er in Alexandria einmal einen Armen traf, der völlig nackt war und vor Kälte schier verging. Da sagte er zu sich: ‚Das ist Christus, und ich bin ein Mörder, wenn er stirbt, weil ich nicht versucht habe, ihm zu helfen.‘ So legte Serapion alle seine Kleider ab und gab sie dem Armen. Ein Passant traf ihn nackt auf der Straße, nur das Evangelienbuch unter dem Arm, und fragte: ‚Abba Serapion, wer hat dich deiner Kleider beraubt?‘ Und Serapion zeigte ihm das Evangelium und sagte: ‚Dieser hier hat mich meiner Kleider beraubt!“ Dann geht er weiter und begegnet einem, der ins Gefängnis abgeführt wird, weil er seine Schulden nicht bezahlen konnte. Serapion wird von Mitleid gepackt und gibt ihm das Evangelium, damit dieser es verkaufen und so seine Schulden bezahlen kann. Als Serapion zitternd vor Kälte ins Kellion zurückkehrt, fragt ihn sein Schüler, wo er die Tunika gelassen habe, und Serapion antwortet, sie sei dort, wo sie nötiger gebraucht werde als an seinem Leib. Auf die zweite Frage des Schülers ‚Und wo ist dein Evangelium?“ antwortet Serapion: ‚Ich habe den verkauft, der mir beständig auftrug: „Verkaufe deine Güter und gib (den Erlös) den Armen“ (Lk 12,33). Ich habe es den Armen gegeben, damit ich am Tag des Gerichts größere Zuversicht haben kann.“
Wir sahen schon zu Beginn, dass Antonius, der von Geburt an Christ war, eine Bekehrung zum asketischen Leben erfuhr durch die lectio divina oder sacra pagina, die er während der Liturgiefeierin seiner örtlichen Kirchengemeinde verkündet hörte.
Pachomius dagegen, der aus einer heidnischen Familie Ober-Ägyptens stammt, wurde zwar ebenfalls durch die Heilige Schrift bekehrt, aber durch die Schrift, wie sie verstanden und gedeutet und gelebt wurde, Fleisch geworden im konkreten Leben der christlichen Gemeinde von Latopolis, die das Evangelium lebte. Sie kennen die Geschichte: Der junge Pachomius wurde zum römischen Heeresdienst eingezogen und auf ein Schiff verfrachtet, das ihn mit den anderen Rekruten nach Alexandria bringen sollte. Eines abends legte das Schiff in Latopolis an, und als man die Eingezogenen für die Nacht ins Gefängnis geworfen hatte, brachten die Christen des Ortes den Eingesperrten Speis und Trank. Das war die erste Begegnung des Pachomius mit Christen.
Für Antonius, der wie kein anderer das Einsiedlerleben verkörpert, wie auch für Pachomius, den Repräsentanten des Zönobitenlebens, ist die Heilige Schrift vor allem eine Lebensregel.Ja, sie ist sogar die einzige wahre Regel für den Mönch. Weder Antonius noch Pachomius haben eine “Regel“ in dem Sinne, wie die spätere monastische Überlieferung sie verstand, geschrieben, wenn auch eine gewisse Zahl von praktischen Anweisungen von Pachomius und seinen Nachfolgern später unter der Bezeichnung „Regel des Pachomius“ zusammengetragen und überliefert worden sind.
Die Heilige Schrift als einzige „Regel“ des Mönchs
Einige Brüder baten den Altvater Antonius um ein „Wort“. Er antwortete ihnen: „Ihr habt die Schrift gehört?Die sollte euch genügen.“Ein anderer fragte ihn: „Was muss ich tun, um Gott zu gefallen?“ Der Alte antwortete: „Achte auf meinen Rat: Wohin auch immer du gehst, halte dir stets Gott vor Augen. Was auch immer du tust,tu es dem Zeugnis der Schriften gemäß.“
In diesem kurzen Apophtegma können wir sofort drei Dinge feststellen. Erstens: der Mönch, der Antonius diese Frage stellt, sucht nicht eine theoretische oder abstrakte Unterweisung. Seine Frage ist vielmehr ganz konkret und praktisch: „Was muss ich tun?“ – Was muss ich tun, um Gott zu gefallen? Diese demütig-fragende Haltung findet man durchgehend in den Apophtegmen. Die Antwort des Antonius ist zweifach: Man gefällt Gott, wenn man Ihn immer vor Augen hat, das heißt, wenn man ständig in der Gegenwart Gottes lebt. Das ist die Vorstellung der Wüstenväter vom immerwährenden Gebet, und dieses ist nur möglich, wenn man sich durch die Heilige Schrift leiten lässt. Antonius spricht hier, wohlgemerkt, nicht vom Lesen oder Betrachten der Schrift, sondern von einem wirklich Tun: alles soll entsprechend dem Zeugnis der Schriften getan werden.
Eines Tages fragte Theodor, der Lieblingsschüler des Pachomius, mit dem Eifer eines Neugetauften: Wie viele Tage soll man während des Pascha ohne Essen verbringen? Das heißt, wann man während der Karwoche fasten solle. Die kirchliche Vorschrift und der allgemeine Brauch sahen vor, Karfreitag und Karsamstag völlig ohne Nahrung zu bleiben, aber manche verbrachten auch drei oder vier Tage in absolutem Fasten. Pachomius riet ihm, die Regel der Kirche zu beobachten, also nur zwei Tage ohne Nahrung zuzubringen, damit er noch die Kraft habe, „ungehindert durch Schwächeanfälle die Dinge zu vollbringen, die uns in der Heiligen Schrift vorgeschrieben sind: unablässiges Gebet, Nachtwachen, Rezitieren des Gesetzes Gottes und Handarbeit.“
Vor allem aber war es den Vätern in der Wüste wichtig, die Bibel nicht nur zu lesen, sondern zu leben! Freilich, um sie zu leben muss man sie kennen. Und wie alle Christen, so lernte der Mönch die Schrift in erster Linie dadurch, dass er sie in der liturgischen Versammlung hörte. Daneben lernte er die wichtigsten Teile der Heiligen Schrift auswendig, um sie den Tag hindurch meditieren, „wiederkäuen“ zu können. Schließlich hatten manche auch zu den Handschriften der Bibel Zugang und konnten sie für sich lesen. Aber dieses private Lesen war nur eine Form unter anderen und nicht notwendigerweise die wichtigste, wie man sich beständig vom Wort Gottes herausfordern ließ.
Die Hermeneutik der Wüste
Die wenigen Geschichten, die ich erzählte, geben uns bereits einen Einblick in die Kraftlinien dessen, was man die „Hermeneutik“ der Wüstenväter nennen könnte – einer Hermeneutik, die zwar gewiss niemals in abstrakte Prinzipien gefasst und explizit formuliert wurde, aber nichtsdestoweniger doch eine Hermeneutik ist. Die großen Meister der modernen Hermeneutik, die eine jede Interpretation als ein „Gespräch“ zwischen dem Text und dem Leser oder Hörer betrachten und für die jede Interpretation normalerweise zu einer Verwandlung oder Bekehrung führen sollte, haben nichts erfunden! Sie haben nur einen Ausdruck geprägt für eine Realität, die die Wüstenväter gelebt haben – allerdings ohne sie ausdrücken zu können, oder jedenfalls, ohne sich Gedanken darüber zu machen, wie man sie formulieren sollte.
In der Wüste wird die Heilige Schrift fortwährend interpretiert. Diese Interpretation aber schlägt sich nicht in Homilien oder Schriftkommentaren nieder, sondern im Tun und in Gesten, in einem heiligmäßigen Leben, das sich verwandeln lässtdurch den beständigen Dialog des Mönches mit der Schrift. Die heiligen Texte hören nicht auf, immer bedeutsamer zu werden, nicht nur für diejenigen, die sie hören und lesen, sondern auch für diejenigen, die diesen Mönchen begegnen, die die Texte in ihrem Leben haben Fleisch annehmen lassen. Der Mann Gottes, der das Wort Gottes assimiliert hat, ist zu einem neuen „Text“ geworden, zu einem neuen Gegenstand der Interpretation. In diesen Zusammenhang übrigens müssen wir die Tatsache einordnen, dass das Wort eines Altvaters für ebenso wirkmächtig gehalten wurde wie das Wort der Schrift.
Oben erwähnte ich das Apophtegma von Antonius, in dem er sagt: „Ihr habt die Schrift gehört?Die sollte euch genügen.“ Tatsächlich waren die Brüder aber nicht zufrieden damit und sagten: „Vater, wir wollen aber auch ein Wort von dir!“ Antonius antwortete ihnen: „Das Evangelium sagt: Wenn jemand dich auf die rechte Wange schlägt, halte ihm auch die andere hin.“ Sie sagten: „Das können wir nicht!“ Der Alte antwortete ihnen: „Wenn ihr ihm nicht die andere hinhalten könnt, so erlaubt ihm wenigstens, euch auf die eine Backe zu schlagen.“ „Noch nicht einmal das können wir!“ – „Wenn ihr selbst das nicht könnt, so vergeltet nicht Böses mit Bösem.“ Und sie antworteten: „Auch das können wir nicht.“ Da sagte der Altvater zu seinem Schüler: „Bereite ein wenig Hirsebrei für sie, denn sie sind krank. Wenn ihr das nicht tun könnt und jenes nicht tun wollt, was kann ich für euch tun? Ihr habt Gebet nötig!“
Söhne der Kirche von Ägypten und Alexandria
Diese Art und Weise, die Heilige Schrift als eine Lebensregel zu verstehen, war im übrigen aber nicht nur den Mönchen zu eigen. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Wüstenväter, die wir aus den Apophtegmata Patrum, auch den Schriften des Pachomius, des Palladius und des Johannes Cassian kennen, vor allem ägyptische Mönche vom Ende des dritten und Anfang des vierten Jahrhunderts sind. Diese Mönche sind Söhne der Kirche. Sie gehören zu einer besonderen Kirche, der ägyptischen, die in der spirituellen Überlieferung von Alexandria geformt ist.
Der Mythos, dass die meisten der ersten Mönche, angefangen mit Antonius, unwissend und des Lesens und Schreibens nicht kundig gewesen seien, hält den wissenschaftlichen Forschungen nicht mehr stand. Viele neuere Studien, vor allem die von Samuel Rubenson über die Briefe des Antonius, haben gezeigt, dass Antonius und die ersten Mönche der ägyptischen Wüste die geistliche Lehre der Kirche von Alexandrien assimiliert hatten. Diese war noch immer tiefgehend geprägt von der Unterweisung der Meister der alexandrinischen Schule, insbesondere von der mystischen Inspiration ihres berühmtesten Meisters, des großen Origenes.
Die Kirche von Alexandrien war entstanden aus der ersten Generation von Christen im Herzen einer hoch gebildeten jüdischen Diaspora, die nach dem Geschichtsschreiber Plinius ungefähr eine Million Mitglieder gezählt haben muss. Das erklärt auch, warum die Kirche von Alexandria und von Ägypten von Anfang an eine sehr betont juden-christliche Ausrichtung verfolgte. Zugleich erklärt es die Offenheit gegenüber der biblischen und mystischen Überlieferung, welche die juden-christlichen Gemeinden der ersten Generation von Christen geprägt hatte. Die „Schule der Wüste“ stellt in vielerlei Hinsicht in der Einsamkeit ein treues Abbild jener Schule von Alexandrien dar, in der, wie wir wissen, Origenes mit seinen Schülern schon eine Form monastischen Lebens führte, in dem sich alles um das Wort Gottes drehte. Nach einer schönen Beschreibung des heiligen Hieronymus wechselte diese Lebensführung Tag und Nacht hindurch ständig zwischen Gebet und Lesung, Lesung und Gebet ab. Und das war keineswegs eine Besonderheit Ägyptens! Fast zur gleichen Zeit formulierte der heilige Cyprian von Carthago eine Regel, die später von fast allen lateinischen Vätern zitiert werden sollte: „Entweder bete eifrig oder lies eifrig; sprich gelegentlich zu Gott, und dann horche wieder auf Gott, der zu dir spricht.“ Daraus entstand die klassische Formel: „Wenn du betest, sprichst du zu Gott; wenn du liest, spricht Gott zu dir.“
Wenn auch nicht jeder ägyptische Mönch ein Evagrius war und vielleicht auch nur wenige Origenesim Urtext gelesen haben dürften, so bleibt doch die Tatsache bestehen, dass sie in der christlichen Spiritualität herangebildet wurden durch die Unterweisung von Hirten, die stark beeinflusst waren von der Ausrichtung, die Origenes der Kirche von Alexandrien gegeben hatte durch die Katechetenschule, deren Leiter er dort so lange Jahre gewesen war. Dies erklärt die solide biblische Spiritualität des ursprünglichen Mönchtums in Ägypten. Man könnte natürlich sofort einwenden, dass Schriftzitate im großen und ganzen, doch selten genug in den Apophtegmata zu finden sind, selbst wenn sie in den pachomianischen Schriften sehr viel häufiger vorkommen. Die Antwort muss lauten, dass die Heilige Schrift so sehr die Lebensweise dieser Asketen geprägt und geformt hatte, dass es überflüssig schien, auch noch Abschnitte aus ihr zu zitieren. Der Mönch war ein pneumatophoros, ein „Geistträger“, weil er der Schrift entsprechend lebte und daher vom gleichen Geist erfüllt war, der die Schrift inspiriert hatte.
Den Kern dessen, was man heute lectio divina nennt, nämlich das Verlangen, sich vom Feuer des Wortes Gottes herausfordern und umwandeln zu lassen, kann man nur verstehen, wenn man wahrnimmt, dass diese Überlieferung über die ersten Mönche hinaus auf die Praxis der frühen christlichen Asketen der ersten drei Jahrhunderte zurückgeht, die wiederum ihre Wurzeln in der jüdischen Überlieferung hatte.
In der katechetischen Unterweisung seiner örtlichen Gemeinde hatte der junge Mönch schon gelernt, dass er geschaffen war als Bild und Gleichnis Gottes, und dass die ursprüngliche Gottähnlichkeit durch die Sünde deformiert wurde und daher reformiert werden muss. Er muss er eine Umformung erfahren, muss sich neu formen lassen nach dem Bild Christi. Durch das Wirken des Heiligen Geistes und durch ein Leben nach dem Evangelium wird die Ähnlichkeit mit diesem Bild allmählich wiederhergestellt. So kann er Gott erkennen lernen.
Wir sahen, dass nach Cassian das Ziel des Mönchslebens das immerwährende Gebet ist. Er beschreibt es als ein beständiges Gewahr-sein des Gegenwart Gottes, das durch die Reinheit des Herzens ermöglicht wird. Man erreicht diese Reinheit des Herzens nicht durch diese oder jene Observanz, nicht einmal durch das Lesen und Meditieren der Heiligen Schrift, sondern indem man sich umwandeln lässt durch die Schrift. Der Kontakt mit dem Wort Gottes – gleichgültig, ob dieser durch die Schriftlesung in der Liturgie,durch die Unterweisung eines geistlichen Vaters, durch das private Lesen eines Textes oder einfach durch das Wiederkäuen eines Verses oder einiger Worte, die man auswendig weiß, zustande kommt - dieser Kontakt ist der Ausgangspunkt für ein Gespräch mit Gott. Dieses Gespräch kommt zustande und intensiviert sich in dem Maß, wie der Mönch eine gewisse Reinheit des Herzens erlangt hat, eine Einfalt des Herzens und Lauterkeit der Absicht, und auch in dem Maß, in dem er sich der praktischen Mittel bedient, um die Reinheit des Herzens zu erreichen und zu bewahren. Dieses Gespräch, in dessen Verlauf das WORT unablässig den Mönch zur Bekehrung herausfordert, unterstützt die beständige Achtsamkeit auf Gott, die die Väter als unablässiges Gebet bezeichneten und die das große Ziel ihres Lebens war.
Für die Mönche der Wüste ist die Lektüre des Wortes Gottes nicht einfach eine religiöse Übung, genannt lectio divina, die allmählich Geist und Herz für die meditatio und dann für die oratio bereitet, in der Hoffnung, schließlich einmal zur contemplatio zu gelangen … möglichst ehe die halbe Stunde oder Stunde der lectio vorbei ist … Für die Wüstenmönche ist der Kontakt mit dem WORT eine Berührung mit dem Feuer, das brennt, verstört, mit Gewalt zur Bekehrung drängt! Kontakt mit der Heiligen Schrift ist für sie nicht eine Gebetsmethode, sondern eine mystische Begegnung. Und diese Begegnung erschreckt sie oft, macht ihnen Angst, denn sie spüren, was sie von ihnen fordert.
Ein hermeneutischer Zirkel: Praxis und Theorie
Die Heilige Schrift nimmt jedes Mal, wenn wir sie lesen, eine neue Bedeutung an. Auch hier stimmt die moderne Hermeneutik mit den Intuitionen der Wüstenväter überein. Diese würden sich nämlich völlig mit dem Ausspruch des heiligen Augustinus identifizieren, der gesagt hat: „Gestern hast du ein wenig verstanden, heute verstehst du etwas mehr, morgen wirst du noch mehr verstehen: das Licht Gottes selbst wird stärker in dir.“
Für die Mönche der Wüste haben die Worte der Schrift – ebenso wie übrigens auch die die Worte der Altväter – stets die begrenzte Dimension der jeweiligen Begebenheit, in der diesem einzelnen Wort zuerst begegnete und erkannte, was es bedeutete, überschritten.Ein solches „Wort“ ließ ein Universum von Bedeutung aufstrahlen, in das sie dann einzutreten versuchten. Der Ruf, alles zu verkaufen, den Erlös den Armen zu geben, dem Evangelium zu folgen (Mt 19,21), die Mahnung, niemals die Sonne über seinem Zorn untergehen zu lassen (Eph 4,25), das Gebot der Liebe – alle diese Texte formten das Leben der Wüstenväter auf besondere Weise. Sie entwarfen ihnenjenes „Universum an Bedeutung“, in das sie eintreten, das sie sich aneignen wollten. In der Wüste bestand die Heiligkeit darin, diesem Universum von Möglichkeiten, das aus den heiligen Texten entsprang, eine konkrete Form zu geben, indem man diese Texte durch das tägliche Leben interpretierte und zur Wirklichkeit werden ließ.
Abba Nesteros sagt uns, dass wir Eifer haben müssen, die heiligen Schriften der Reihe nach auswendig zu lernen und sie unaufhörlich im Gedächtnis zu wiederholen. Diese unablässige Meditation wird, wie er sagt, für uns doppelte Frucht tragen: Erstens wird sie uns vor bösen Gedanken bewahren. Und dann wird die ständige Rezitation oder Meditation, das „Murmeln“ der Schriftworte, uns zu ständig neuen Einsichten, zu immer tieferem Verstehen führen. Dann sagt Nesteros diesen wunderbaren Satz: „In dem Maß, wie unser Geist sich erneuert durch dieses Studium, in dem Maße beginnen auch die Schriften ein neues Gesicht anzunehmen.“ Es wird uns geschenkt, dass wir immer mehr von den Geheimnissen erkennen, deren Schönheit wächst, wenn wir Fortschritte machen: Je mehr wir die Heilige Schrift in die Praxis umsetzen, umso tiefer werden wir sie verstehen.
Wir können hier nochmals den Vergleich zu dem modernen Zugang eines Ricoeur etwa ziehen, der sagt: Sobald ein Text aus der Hand des Autors hervorgegangen ist, nimmt er eine eigene Existenz an und bekommt jedes Mal, wenn er gelesen wird, eine neue Bedeutung, da jedes Lesen schon eine Interpretation ist, die eine der fast unendlichen Möglichkeiten, die in dem Text enthalten sind, offenbart.
Nach der modernen Methode der lectio divina sollten wir langsam lesen und bei jedem Vers lang genug verweilen, dass er Geist und Herz, und vielleicht sogar die Gefühle, nähren kann. Wenn dann die Gefühle abgekühlt oder die Aufmerksamkeit erloschen ist, sollten wir zum nächsten Vers übergehen. Die ersten Mönche dagegen blieben bei dem einen Vers, solange sie ihn noch nicht in die Praxis umgesetzt hatten. Zum Beispiel kam einer zu Abba Pambo und bat ihn, er solle ihn einen Psalm lehren. Pambo begann, ihm den Psalm 38 beizubringen. Aber kaum hatte er den ersten Vers ausgesprochen: „Ich sprach, ich will auf meine Wege achten und eine Wache an meinen Mund stellen, damit ich nicht sündige mit meiner Zunge…“, da unterbrach ihn der Bruder. Er wollte weiter nichts hören und sagte: „Dieser Vers genügt für mich! Gebe Gott, dass ich Kraft genug habe, das zu lernen und zu praktizieren!“ Neunzehn Jahre später versuchte er es noch immer … In ähnlicher Weise bat jemand den Abba Abraham, der nicht nur ein Mann des Gebets, sondern auch ein ausgezeichneter Schreiber war, er möge ihm doch den Psalm 33 abschreiben. Er schrieb nur den Vers 15: „Wende dich ab vom Bösen und tue das Gute; suche den Frieden und jage ihm nach.“ Dann sagte er zu dem Bruder: „Verwirkliche das, und dann schreibe ich dir das Übrige ab.“
Die Bibel ist für die Väter nicht etwas, was man mit dem Verstand kennt und begreift, nicht einmal mit der Herzen, wie wir heute gern sagen (wobei wir aber oft genug das biblische Verständnis des Herzens verwechseln mit einer sehr viel jüngeren und ein bisschen sentimentalen Auffassung von „Herz“).Was die Väter angeht, so meinen sie, dass man die Bibel in dem Maß kennt, als man sie so weit assimiliert hat, dass sie ins Leben übersetzt wird. Jede andere Kenntnis, die nicht dazu führt, ist nutzlos.
Die Schrift verstehen
Das alles will aber nicht heißen, dass wir nicht auch mit dem Verstand an die Heilige Schriftherangehen sollen. Es ist den Mönchen wichtig, den wörtlichen Sinn der Schrift zu verstehen, ehe sie beginnen, sie auf sich anzuwenden. In den pachomianischen Klöstern zum Beispiel gab es jede Woche drei Katechesen, in deren Verlauf entweder der Obere des Klosters oder der jeweilige Hausobere bei der Synaxis die Heilige Schrift auslegte. Danach besprachen die Brüder miteinander, was sie verstanden hatten, um sicherzustellen, dass ein jeder es richtig aufgefasst hatte.
Die Auslegung eines schwierigen Textes fordert eine Anstrengung des Verstanden. Aber diese Anstrengung würde nichts nützen ohne das göttliche Licht, und um dieses muss man im Gebet bitten. In diesem Sinne sollte das Gebet sowohl der lectio vorangehen als auch ihre Frucht sein.Als einmal zwei Brüder den Altvater Antonius über die Bedeutung eines schwierigen Textes aus dem Buch Levitikus befragten, bat Antonius sie, ein bisschen zu warten. Dann ging er und betete und bat Gott, ihm Mose zu schicken, dass dieser ihn den Sinn dieses Textes lehre. Schon vor ihm hatte Origenes ebenso gehandelt und seine Schüler gebeten, mit ihm gemeinsam im Gebet um das Verständnis eines besonders schwierigen heiligen Textes zu flehen, damit er, wie er sagte die „geistliche Erbauung“ finde, die darin enthalten sei. Man beachte den Ausdruck „im Text enthalten“: die spirituelle Bedeutung der Heiligen Schrift ist nicht etwas künst-lich Hinzugefügtes, sondern etwas, das im Text enthalten ist und entdeckt werden muss.
In derselben Linie schrieb auch der große Isaak von Niniveh: „Nähere dich den Worten der Schrift, die voller Geheimnis sind, nicht ohne Gebet … Sprich zu Gott: ‚Herr, lass mich die Kraft wahrnehmen, die hier zu finden ist‘.“ Was wir in einem Text zu finden hoffen, ist nicht eine abstrakte, immaterielle Bedeutung, sondern eine Kraft, die imstande ist, den Leser umzuwandeln.
Die modernen Theorien über die lectio divina betonen im allgemeinen die Tatsache, die lectio sei etwas völlig anderes als das Studium.Die Väter würde eine solche Unterscheidung und eine solche Unterteilung in verschiedene von einander getrennte Bereiche überhaupt nicht verstanden haben. Ihr Zugang zur Heiligen Schrift war ganzheitlich und einheitlich: Ein jedes Bemühen, die Schrift zu lernen, zu verstehen und in die Praxis umzusetzen war einfach nur das Bemühen, mit Gott ins Gespräch zu kommen und zuzulassen, dass er einen verwandle in diesem Dialog, der zum unablässigen Gebet wird. Weder sie noch Origenes, und erst recht nicht Hieronymus, für den galt: „die Schrift nicht kennen heißt, Christus nicht kennen,“ hätten Verständnis gezeigt für ein Studium der Heiligen Schrift, das nicht eine persönliche Begegnung mit dem lebendigen Gott darstellte.
Für Hieronymus ist der „Sitz“ des Gebetes nicht in erster Linie das Herz, sondern vielmehr der Verstand, von dem aus es ins Herz sinkt. Es ist notwendig, zuerst Gott zu kennen, um ihn lieben zu können. Wer ihn wahrhaft kennt, kann gar nicht anders als lieben! Von daher ist es nötig, die Schrift tiefgehend zu studieren und sie mit dem Verstand zu begreifen. Marcella hatte mehr als alle anderen Jünger und Jüngerinnen des Hieronymus die Heilige Schrift tiefgreifend studiert und mit aller Hingabe gelesen. Er sagte von ihr: „Sie hatte verstanden, dass die Meditation nicht darin besteht, Schrifttexte zu wiederholen … Denn sie wusste, dass sie nur dann verdiente, die Schriften zu verstehen, wenn sie die Gebote ins Leben übersetzt hatte.“
Johannes Cassian hatte zur Zeit des Evagrius mehrere Jahre in den Wüsten Ägyptens gelebt und kann als ein guter Wortführer für die Spiritualität der Wüstenväter gelten. Er unterscheidet zwei Weisen des Wissens, praktikè und theoretikè. Letztere ist die Schau göttlicher Dinge und das innere Verstehen der heiligsten Bedeutungen. Diese theoretikè gnosis oder Schau göttlicher Dinge nennt er auch „die wahre Kenntnis der Schriften“, die er in zwei Teile aufgliedert: die geschichtliche Deutung und die geistliche Auslegung. Beide aber, die eine wie die andere, gehören zu Kontemplation, zur Schau. Cassian fügt hinzu: „Wenn du die wahre Wissenschaft und Kenntnis der Heiligen Schrift erlangen willst, beeile dich zu erst, dir eine unerschütterliche Demut des Herzens anzueignen. Diese wird dichzur echten Wissenschaft führen, nicht zu jener, die aufbläht, sondern zu der, die erleuchtet durch eine verzehrende Liebe.“ Nicht die Methode der Lesung und Auslegung entscheidet also darüber, ob das Schriftstudium ein kontemplatives Tun ist oder nicht, sondern die Haltung des Herzens.
Das Vorverständnis und die Vätersprüche
Die Hermeneutik von Ricoeur lehrt uns, dass man bei der Lektüre eines antiken Autors nicht so sehr in Beziehung tritt mit den Gedanken des Autors als vielmehr mit der Wirklichkeit selbst, von welcher der Autor spricht. Man kann daher unmöglicheinen Text verstehen ohne ein Vor-Verständnis. Es besteht darin, dass der Leser bereits eine gewisse Beziehung hat zu der Wirklichkeit, von der in diesem Text gesprochen wird. Bei Cassian finden wir eine ähnliche Intuition gegen Ende der 10. Unterredung. Nachdem Abba Isaak davon gesprochen hat, mit welchen Mitteln man zum reinen Gebet gelangt, fügt er hinzu:
„Zum Leben gebracht durch diese Nahrung der Heiligen Schrift, von der er sich unaufhörlich ernährt, dringt der Beter durch bis in alle Gemütsregungen, die in den Psalmen ausgedrückt sind, so dass er sie nicht mehr als vom Propheten gedichtet singt, sondern als ob er selbst der Autor wäre und als sein ganz persönliches Gebet … Das ist es ja in der Tat, was uns die Heilige Schrift in aller Klarheit enthüllt, und es wird uns ihr Herz und in gewisser Weise ihr Mark gezeigt, wenn unsere Erfahrung uns nicht nur erlaubt, die Bedeutung zu erkennen, sondern uns genau diese Erkenntnis schon vorwegnehmen lässt, indem uns der Sinn der Worte nicht durch irgendeine Erklärung, sondern dadurch, dass wir selbst sie erprobt haben, bekannt gemacht wird … Belehrt durch das, was wir selbst fühlen, sind die Dinge, die wir vom Hörensagen lernen, eigentlich nicht wirklich für uns. Aber wir untersuchen gewissermaßen die Wirklichkeit in ihnen, um in ihre Tiefen vorzustoßen. Sie haben keineswegs die Wirkung wie etwas dem Gedächtnis Anvertrautes, sondern wie bringen sie aus der Tiefe unseres Herzens hervor als natürliche Gefühle, die Teil unseres Wesens sind. Nicht das Lesen ist es, was uns den Sinn der Worte durchdringen lässt, sondern die Erfahrung, die wir gesammelt haben.“
Es gibt kein Verständnis und keine Interpretation ohne ein Vorverständnis. Von diesem Blickwinkel aus ist es klar, dass das Leben, das die Mönche in der Wüste führten, ein völlig dem Schweigen, der Einsamkeit und der Askese gewidmet war, schon ein Vorverständnis darstellte, das ihr Schriftverständnis in einem großen Ausmaß konditionierte. Das Schweigen unddie Reinheit des Herzens wurden als Vorbedingungen angesehen dafür, dass man die Schriften in ihrem vollen Sinn verstehen und auslegen konnte.
Bis zu einem gewissen Punkt kann man nur das verstehen, was man bereits lebt. Darum hat der heilige Hieronymus eine Reihenfolge festgelegt, in der man die Heilige Schrift lernen sollte: zuerst den Psalter, dann die Weisheit Salomons und Kohelet, schließlich das Neue Testament. Und erst dann, wenn die Seele durch eine lang dauernde Beziehung liebender Vertrautheit mit Jesus Christus vorbereitet ist, kann man auf fruchtbare Weise an das Hohelied herangehen.
Die Wüstenväter antworteten manchmal mit einem Schriftwort auf eine Frage, die an sie herangetragen wurde,manchmal aber antworteten sie auch mit anderen Worten, denen aber die Hörer praktisch die gleiche Bedeutung zumaßen. Sie waren überzeugt, dass die Kraft dieser Worte von der großen Reinheit herkam, in der dieser Mann lebte, der sie ausgesprochen hatte – weil er selbst von der heiligen Schrift verwandelt worden war.
Die moderne Auffassung von der lectio divina
Abschließend möchte ich noch, im Licht der eben dargelegten Lehre der Wüstenväter, einige Überlegungen zur modernen Auffassung von der lectio divina anstellen.
Was man heute lectio divina nennt, wird als eine Methode präsentiert, in der man die Heilige Schrift sowie die Kirchen- und Mönchsväter liest. Sie besteht in einem langsamen, meditativen Lesen des Textes, ein Lesen „mehr mit dem Herzen als mit dem Verstand“, wie man sagt, ohne praktisches Ziel, sondern einfach um sich vom Wort Gottes durchdringen zu lassen.
Diese Methode hat, soweit es sich um eine Methode handelt, ihre Wurzeln im 12 Jahrhundert undstehtnicht beziehungslos neben dem, was man heute die „Monastische Theologie“ nennt. In jener Epoche hatten die Vorscholastiker ihre Methode entwickelt, die von der lectio zur quaestio und dann zur disputatio führte. Die Reaktion der Mönche darauf war, dass sie ihre eigene Methode entwickelten: die lectio führte zur meditatio, diese dann zur oratio … und ein wenig später fügten sie noch die contemplatio hinzu, die man dann von der oratio unterschied. Während der Zugang der Wüstenväter zur Heiligen Schrift, wie ich ihn oben beschrieb, in Wirklichkeit eine Weise des Lesens war, die sie mit dem ganzen Volk Gottes gemeinsam hatten, beschränkte der neue Zugang oder die neue „Methode“ – denn nun handelte es sich um eine „Übung“, um eine wichtige Observanz der monastischen Daseinsweise – sich auf die Klöster. Und wieder eine geraume Zeit später, in der Bewegung der Devotio moderna, wurde die „geistliche Lesung“ populär, und man unterschied sie sorgfältig von der monastischen lectio divina. Mehr und mehr ging der allgemeine Trend dahin, das geistliche Leben zu spezialisieren und in wasserdichten Abteilungen abzuschotten.
Es würde in diesem Artikel zu weit führen, diese lange Entwicklung zu analysieren.Ich möchte mir nur ein paar Beobachtungen erlauben. Die erste ist, dass man sich allen Ernstes fragen könnte, wie sich die theologische Wissenschaft wohl entwickelt hätte, wenn sich die Mönche nicht der neu aufkommenden scholastischen Methode verschlossen hätten. Denn was man heute als „monastische Theologie“ bezeichnet, hatte bis ins 12. Jahrhundert überhaupt nichts monastisches an sich, sondern war ganz einfach die Art und Weise, wie man im Volke Gottes Theologie betrieb, und zwar mit ebenso viel Pluralismus innerhalb wie außerhalb der Klöster. Diese einsichtsvolle und kontemplative Weise, in der man bis dahin theologische Wahrheiten ausgedrückt hatte, wusste die Beiträge der unterschiedlichen Methoden und verschiedenen Ideen und Denkweisen aufzunehmen und umzuformen – heute würde man sagen: zu inkulturieren. Man kann sich legitimerweise fragen, wie sich die Theologie der folgenden Jahrhunderte entfaltet hätte, wenn die Mönche die neue Methode ebenfalls zu assimilieren verstanden hätten, wie sie schon so viele andere zuvor assimiliert hatten. Jedenfalls hielt man in den Klöstern um jeden Preis fest an einer Weise, Theologie zu treiben, die man für monastisch hielt, während sich in den Schulen außerhalbder Klöster, an den Kathedralen und Universitäten, die scholastische Theologie entwickelte. Bei einem Thomas von Aquin wurde diese neue Methode sicherlich noch in einer zutiefst kontemplativen Perspektive angewandt. Bei den Kommentatoren jedoch, und dann bei den Kommentatoren der Kommentatoren, wurde sie jedoch immer trockener.
Ähnlich war die Situation beim Studium der Heiligen Schrift. Bis ins 12. Jahrhundert hatten die Mönche die vorherrschende Rolle in der Auslegung und im Gebrauch der Heiligen Schrift gespielt, obwohl ihr Zugang ja nicht wesentlich verschieden war von dem den ganzen Volkes Gottes. Als sie jedoch, ohne sich selbst ganz darüber im klaren zu sein, unter den Einfluss der neuen Gedankenwelt gerieten, entwickelten sie ihre eigene Methode des Lesens, parallel zu der scholastischen, und seither existieren in der Kirche zwei deutlich zu unterscheidende Zugänge zur Heiligen Schrift: der eine propagiert ein „Lesen mit dem Herzen“ (und vergaß in manchen Epochen, den Verstand mitzubringen), der andere favorisierte den „wissenschaftlichen“ Zugang, der immer trockener wurde. Andererseits muss man feststellen, dass die Mönche selbst, indem sie eine eigene Methode der lectio entwickelten, ebenfalls schon abhängig waren von der neuen vorscholastischen Mentalität, die eine Methode für nötig hielt. Die ersten Mönche hatten keine Methode. Sie besaßen eine Haltung des Lesens.
Im Verlauf der Jahrhunderte haben die Mönche ihre charakteristische Weise, die Schrift und die Väter zu lesen und Theologie zu treiben vergessen, und so haben sie die für jedermann allgemein übliche übernommen. Es war also nötig, dass die Mönche in unserer Zeit zurückkehrten zu einer anderen Art von Theologie als die scholastischen Textbücher boten, und dass sie wieder eine andere Art, die Schrift und die Väter zu lesen, fanden als die der modernen wissenschaftlichen Exegese.Hier schulden wir Dom Jean Leclercq großen Dank und Wertschätzung, dass er das zeitgenössische Mönchtum in diese Richtung gedrängt hat. Darüber hinaus könnte man sagen, dass die Auffassungen von der „monastischen Theologie“ und der lectio divina, wie wir sie heute verstehen, die beiden schönsten Schöpfungen von Dom Jean Leclercq sind.
Es war entscheidend wichtig, wiederhole ich, dass das Mönchtum im ausgehenden 20. Jahrhundert diese Art und Weise, die Schrift zu lesen und Theologie zu treiben, wieder entdeckte. Aber es muss noch weiter gehen: Wir müssen erkennen, dass diese Weise der Schriftlesung und der Theologie überhaupt nicht spezifisch monastisch sind. Das ganze Volk Gottes muss sie wieder entdecken, denn das war die Weise, wie einst das ganze Volk Gottes die Heilige Schrift las und Theologie trieb.
Und wir müssen noch einen Schritt weiter gehen. Wir müssen über die Trennung des monastischen Lebens vom Leben der anderen Christen hinaus gehen. Wir müssen die ursprüngliche Einheit wiederentdecken, die unterwegs verlorengegangen ist.
Die Lectio divina heute
Es ist wahr, wir sollten uns freuen, dass die lectio divina seit ungefähr vierzig Jahren im Leben der Mönche heute und auch im Leben vieler Christen außerhalb der Klöster wieder einen wichtigen Platz gewinnt. Es ist aber auch wahr, dass die gegenwärtige Haltung in Bezug auf die lectio nicht ganz ohne Gefahren ist. Es besteht nämlich vor allem die Gefahr, dass sehr häufig – wenn auch manchmal unmerklich – die lectio divina in eine „Übung“ verwandelt wird,- eine Übung unter anderen, selbst wenn man sie als die wichtigste betrachtet. Der treue Mönch hält jeden Tag eine halbe Stunde oder sogar eine ganze Stunde lectio divina, und dann macht er weiter mit seiner geistlichen Lesung, seinen Studien und seinen anderen Tätigkeiten. In dieser halben Stunde (oder Stunde) nimmt er eine Haltung der bedingungslosen Offenheit und Achtsamkeit im Hören auf Gottes Wort an. Und dann widmet er sich den Rest des Tages hindurch mit derselben rastlosen Hektik, demselben Geist des Wettbewerbs und der Konkurrenz, derselben Zerstreuung seinen übrigen Tätigkeiten, als ob er nicht ein Leben des immerwährenden Gebets und der beständigen Suche nach der Gegenwart Gottes gewählt hätte.
Nicht nur, dass dies alles dem Geist der Wüstenmönche völlig fremd ist, diese Haltung ist ein Widerspruch in sich, wenn man sich auf das wahre Wesen der lectio divina besinnt. Wesentlich ist für die lectio, wie sie von den besten Autoren beschrieben wird, die innere Haltung. Und diese Haltung ist nicht etwas, was man sich für eine halbe Stunde oder eine Stunde pro Tag anlegen kann. Man hat sie entweder die ganze Zeit über oder überhaupt nicht. Sie durchdringt unseren ganzen Tag – oder die Übung bleibt bloß ein sinnloses Spiel.
Sich von Gott in Frage stellen lassen, sich herausfordern und formen lassen durch alle Elemente des Tages, durch die Arbeit wie durch die Begegnungen mit den Brüdern, durch die harte Askese ernsthafter intellektueller Arbeit wie durch die Feier der Liturgie und durch die normalen Spannungen des Gemeinschaftsleben – all das ist schrecklich anspruchsvoll. Die Haltung völliger Offenheit zu beschränken auf eine privilegierte Übung, die lectio,die dann unseren ganzen übrigen Tag wie von selbst durchdringen soll – das ist vielleicht doch eine allzu einfache Art und Weise, vor diesem Anspruch davonzulaufen.
Für die Wüstenväter bildeten das Lesen, Meditieren, Beten, Analysieren, Auslegen, Erforschen und Übersetzen der Heiligen Schrift ein unteilbares Ganzes. Es wäre für einen Hieronymus zum Beispiel undenkbar gewesen, das seine umfassende Analyse des hebräischen Textes der Schrift, mit der er alle Nuancen zu entdecken suchte, ein Tun sein sollte, das den Namen lectio divina nicht verdiente …
Wir müssen uns gewiss glücklich schätzen, dass wir neu entdeckt haben, wie wichtig es ist, das Wort Gottes mit dem Herzen zu lesen, es auf eine solche Weise zu lesen, dass es uns umwandeln kann. Aber ich glaube, dass es ein Fehler ist, daraus eine Übung zu machen, anstatt mit dieser innerlich achtsamen und hörenden Haltung die tausendundeins Facetten unserer Weise, an die Schrift heranzugehen, zu durchdringen. Darüberhinaus muss man sagen: Der Glaube, dass der Schrifttext mich nur dann in meinem tiefen inneren Leben treffen kann, mich nur dann herausfordern und verwandeln kann, wenn ich dem Text „nackt“ gegenübertrete, ohne die vielen Werkzeuge zu benutzen, mit denen ich ihn in seinem Literalsinn und seiner primären Bedeutung begegnen kann, eine solche Überzeugung läuft Gefahr, zu einer fundamentalistischen Haltung zu führen – was heutzutage nicht selten vorkommt – oder andererseits zu einem falschen Mystizismus zu führen, was ebenfalls oft genug geschieht
Da man heute allgemein darin übereinstimmt, dass nicht nur die Heilige Schrift, sondern auch die Kirchen- und Mönchsväter Stoff für die lectio divina sein können, erlaube ich mir auch dazu noch eine Überlegung. Die monastische Überlieferung hat, weil sie eine lebendige Interpretation des Wortes Gottes ist, eine der Heiligen Schrift vergleichbare Bedeutung, wenn auch an zweiter Stelle.Wie sahen ja, dass die Wüstenväter dem Wort oder Beispiel eines Abba, der vom Heiligen Geist erfüllt und verwandelt war, dieselbe Macht zusprachen wie dem Wort Gottes oder einem Beispiel aus der Bibel. Aber dieses „lebendige Wort“ der monastischen Überlieferung muss ebenfalls ständig neu ausgelegt und interpretiert werden.
In unserer Zeit haben die monastischen Gemeinschaften die Väter wiederentdeckt, und wir können diese Neuentdeckung nicht genug preisen. Aber die Botschaft der Väter ist mehr noch als die der Heiligen Schrift gekleidet in eine bestimmte Kultur, die nicht – wie man oft meint – die monastische Kultur schlechthin ist (als ob es nur eine einzige gäbe), sondern vielmehr der kulturelle Kontext der jeweiligen Epoche, in der die alten Mönche ihre monastische Berufung lebten. Der moderne Leser muss seine kritische Geistesverfassung ablegen und sich der verwandelnden Kraft der Gnade aussetzen, in der die Väter lebten und die sie uns vermitteln. Das kann er aber nur, wenn er zuvor mit kritischer Feinfühligkeit das kulturelle Gewand abgepellt hat, unter dem diese kostbare Nahrung verborgen ist.
Wie es nicht nur eine einzige christliche Kultur gibt, parallel zu all den vielen profanen Kulturen, sondern viele örtliche Kulturen, die christianisiert wurden, und zwar in unterschiedlichem Maß, so gibt es auch nicht nur eine monastische Kultur, sondern viele verschiedene Kulturen, die umgewandelt worden sind durch ihre Begegnung mit dem Charisma des Mönchtums. Die Väter als Stoff für die lectio divina zu gebrauchen, erfordert eine ernsthafte Arbeit der Exegese und des Studiums, um die Wirklichkeit wieder zu erfassen, die jene Väter lebten jenseits der kulturellen Verkleidung. Andernfalls liest man nur sich selbst und seine eigene Meinung in die Texte hinein, die man bewundert, und natürlich bewundert man sie umso mehr, je mehr man von sich darin findet!
Der Mönch von heute wird herausgefordert, zur Umkehr gerufen, verwandelt durch die Lektüre der Mönchsväter, aber nur unter der Bedingung, dass er sich von ihnen berühren lässt in allen Aspekten seiner Erfahrungen als Mönch. Und das wird allein in dem Maß geschehen, als er sich mit ihnen vereint im Gesamten ihrer Erfahrungen. Das setzt eine detaillierte Analyse ihrer Sprache und ihrer Ausdrucksweise, ihrer philosophischen und theologischen Gedankenwelt und des kulturellen Kontexts, in dem sie lebten, voraus. Es scheint mir künstlich und sogar gefährlich, dieses ernsthafte Studium von der eigentlichen lectio divinazu unterscheiden und abzugrenzen, als ob es nur ein Vorspiel zu ihr wäre. Der Mönch von heute gehört notwendigerweise einer bestimmten Kultur und einer Ortskirche an, also einer bestimmten christlichen Kultur. Das ist die Kultur, die in ihm der monastischen Überlieferung begegnet und sich von ihr herausfordern und verwandeln lassen muss. Im fürchte, dass wir allzu oft, wenn wir an die Väter herangehen, die Jungen dazu drängen, die monastische Kultur einer vergangenen Epoche wie ein Gewand überzuziehen, und damit riskieren, unsere Klöster in kulturelle Flüchtlingslagerumzuwandeln.
Schluss
Die Wüstenväter erinnern uns, dass die Heilige Schrift von erster und grundlegender Bedeutung im Leben des Christen ist, und dass es für uns nötig ist, uns fortwährend umwandeln zu lassen im Schmelztiegel des Wortes Gottes.
Des weiteren lässt uns selbst ein so rascher Überblick über ihre Art, mit der Heiligen Schrift umzugehen, von selbst bestimmte Aspekte der modernen Auffassung von der lectio divina in Frage stellen, oder genauer, wirkt als ein Anruf, darüber hinaus zu gehen, um die Einheit ihrer gelebten Erfahrungen tiefer zu verstehen. Der Mönch kann sich noch weniger als jeder andere erlauben, geteilt zu sein! Schon sein Name monachos erinnert ihn unablässig an die Einheit vonBestrebungen und Haltungen, die jenem Mann oder jener Frau eigen sind, der / die sich entscheiden hat, eine einzige Liebe zu leben mit einem ungeteilten Herzen.